Wie viel Schmerz können Eltern ertragen? Das fragt sich, wer Idit und Kobi Ohel begegnet. Sie mussten mit ansehen, wie die Hamas ihren Sohn Alon in mehreren Videos der Weltöffentlichkeit zur Schau stellte. Der 24-jährige Deutsch-Israeli wirkt auf den Bildern sichtlich geschwächt. Auf einem Auge scheint Alon die Sehkraft verloren zu haben. Verletzungen, die die Terroristen ihm am 7. Oktober zufügten, als sie ihn vom Nova Musikfestival entführten, wurden offenbar nicht behandelt.
Laut Berichten ehemaliger Geiseln wird Alon in einem Tunnel unter Gaza gefangen gehalten, angekettet, ohne Matratze. Alon ist Pianist. Zu seinen Lieblingsstücken gehört Claude Debussys »Clair de Lune«. Eine schwebende, träumerische Melodie. Kultur ist der Hamas fremd, sie kennt nur den Todeskult.
Alons Gefangenschaft personifiziert den Überlebenskampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Seine Eltern wirken so hoffnungsvoll wie lange nicht, ihren Sohn bald wiederzusehen, als sie in der vergangenen Woche unsere Redaktion besuchen. Ihre Hoffnung ist maßgeblich Donald Trump zu verdanken. Der hierzulande chronisch unterschätzte US-Präsident hat mit seinem 20-Punkte-Plan eine neue Dynamik in die Verhandlungen zwischen Israel und den Terroristen gebracht. Auch wenn noch völlig offen ist, ob die Gespräche in Kairo zu einem positiven Ergebnis führen, scheint die Freilassung der israelischen Geiseln in greifbarer Nähe.
Trump hat mit seiner kraftvollen Drohung, es werde die Hölle über der Hamas hereinbrechen, wenn sie seinen Deal nicht akzeptiert, die Chancen auf eine Waffenruhe erhöht. Während Amerika willens ist, die Freiheit zu verteidigen, hat sich Europa längst dem Islamismus unterworfen. Wie sonst ist es zu bewerten, dass Frankreich, Großbritannien und Spanien mit ihrer Anerkennung eines palästinensischen Staates die Hamas für den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust sogar noch belohnt haben.
Die Regierungen in Paris, London und Madrid sind vor ihren unaufhaltsam wachsenden muslimischen Wählergruppen eingeknickt. Selbstverständlich ist Kritik an der Verhältnismäßigkeit der Kriegsführung Netanjahus legitim. Doch mit der Anerkennung eines palästinensischen Staates hat man den Nahen Osten dem Frieden kein Stück nähergebracht, im Gegenteil.
Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Verhandlungsposition der Hamas gestärkt, indem sie ein riesiges Sanktionspaket gegen Israel angekündigt hat. Es reicht von der Suspendierung des Assoziierungsabkommens bis hin zur Aussetzung von Unterstützungszahlungen. In Europa ist in Vergessenheit geraten, dass es sich bei Israel um die einzige Demokratie im Nahen Osten handelt und bei der Hamas um eine Terrororganisation.
Von der Leyen sei ein ausgedehnter Spaziergang von ihrem gut gesicherten Amtssitz in Brüssel in den Stadtteil Molenbeek empfohlen. Hier lässt sich eine islamistisch geprägte Parallelgesellschaft erster Güteklasse besichtigen. Die Attentäter von Brüssel und Paris 2015 lebten hier. Der islamistische Terror bedroht längst auch uns, es reicht ein Blick auf die vergangene Woche.
In Manchester wurden bei einem Anschlag auf eine Synagoge zwei Menschen brutal ermordet. In Berlin wurden drei mutmaßliche Hamas-Mitglieder festgenommen, die Anschläge in Deutschland geplant haben sollen. Doch statt Israel für jeden ausgeschalteten Terroristen zu danken, hat die Bundesregierung die Waffenlieferungen an Israel teilweise eingestellt. Dieser Bruch mit der deutschen Staatsräson war nicht nur geschichtsvergessen, sondern auch gegen unser eigenes Sicherheitsinteresse. Denn Deutschland ist viel mehr auf die Unterstützung Israels angewiesen als umgekehrt – denken wir an die Bedeutung israelischer Geheimdienstinformationen oder die Lieferung des Raketenabwehrsystems »Arrow 3«, das Deutschland angesichts der Bedrohung durch Russland dringend braucht.
Die Bundesregierung sollte den zweiten Jahrestag des Terrors vom 7. Oktober zum Anlass nehmen, die Waffenlieferungen vollständig wieder aufzunehmen. Darüber hinaus sollte Friedrich Merz endlich zum ersten Mal in seiner Funktion als Bundeskanzler nach Israel reisen. Ein Besuch bei unserem wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten wäre angesichts Deutschlands historischer Verantwortung gegenüber Israel, aber auch aus eigenem Interesse dringend geboten.
Die Hoffnung von Idit und Kobi Ohel auf die Freilassung ihres deutsch-israelischen Sohnes sollte nicht nur auf Donald Trump ruhen, sondern auch auf Friedrich Merz.
Der Autor ist Chefredakteur der »Welt«.