Meinung

Ein Denkmal, das bröckelt

Blick auf das Stelenfeld in Berlin-Mitte Foto: picture alliance / CHROMORANGE

In dunklen Winternächten ist dieser Ort besonders eindrucksvoll. Das wellenförmige Feld aus 2711 Stelen steht mitten im Berliner Regierungsviertel. Dieser Ort, der in Beton gegossen hat, dass die Erinnerung an die Schoa ein fester Bestandteil der deutschen Identität bleiben soll. Doch mittlerweile ist das Stelenfeld auch zur Metapher verkommen: Denn die Stelen, sie bröckeln. Einige von ihnen werden sogar provisorisch von Eisenmanschetten zusammengehalten.

Der 1907 in Warschau geborene Rabbiner Abraham Joshua Heschel machte sich im Hinblick auf den Schabbat über die Bedeutung von Heiligtümern in Raum und Zeit 1951 einige Gedanken und schrieb: »Überall wird die Entweihung von Heiligtümern als Sakrileg betrachtet, und das Heiligtum kann so wichtig werden, dass die Idee, für die es steht, darüber in Vergessenheit gerät. Das Denkmal fördert das Vergessen, das Mittel macht das Ziel zunichte.«

Das bietet ein erstaunliches Gleichnis: Nicht nur die Stelen bröckeln, sondern auch der immer wieder behauptete, aber keineswegs tatsächlich vorhandene Konsens, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte ebenso notwendig ist wie daraus Verantwortung für den Kampf gegen Antisemitismus abzuleiten.

Groß war die Aufregung, als der deutsch-israelische Comedian Shahak Shapira 2017 mit seiner Aktion »Yolocaust« die Nutzung dieses Ortes zynisch infrage stellte.

Groß war die Aufregung, als der deutsch-israelische Comedian Shahak Shapira 2017 mit seiner Aktion »Yolocaust« die Nutzung dieses Ortes durch Besucherinnen und Besucher, beispielsweise für Selfies, zynisch infrage stellte. Aber was waren die Konsequenzen? Bis heute blieb die große Bildungsoffensive aus.

Bis heute halten es manche Politikerinnen und Politiker sowie Parteien für einen großen Wurf, auf Erinnerungsabwehr mit verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen zu reagieren. Als würden 90 Minuten an einem Ort, an dem Folter und Massenmord geschahen, Erkenntnisse mit sich bringen, die ein Leben lang anhalten.

In meinen Gesprächen mit Gedenkstät­tenmitarbeitern wurde – gelinde gesagt – Skepsis gegenüber derartigen Vorschlägen geäußert. An vielen Orten arbei­ten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ehren­amtlich als Guides. Denn selbst die Hauptamtlichen haben zu wenig Zeit, um eine umfassende historisch-politische Bildung zu leisten. »Das Denkmal fördert das Vergessen« – es klingt zynisch, und doch steckt eine Wahrheit darin, wenn man es auf das Berliner Holocaust-Mahnmal überträgt.

Wie könnte »ein Ort, an den man gern geht«, wie es Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder einmal sagte, dieses Ziel erfüllen? Und zwar das kritische Potenzial der Vergangenheit für die Gegenwart zu entfalten? Wenn der 27. Januar nicht so groß werden soll, dass »die Idee, für die (er) steht, darüber in Vergessenheit gerät«, dann sollte er zum Anlass genommen werden, um endlich die dringend benötigten Ressourcen für die politisch-historische Bildungsarbeit freizugeben. Und so droht dieser Tag wie das Mahnmal doch seinem eigentlichen Zweck zuwiderzulaufen, und zwar kein Erinnern, das Kämpfen heißt, sondern ein Denkmal, das bröckelt.

Der Autor ist Publizist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Marlene Schönberger (Grüne).

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Meinung

Für das Leben entscheiden

Die Fortführung der Kampfhandlungen in Gaza gefährdet das Leben der Geiseln und den moralischen Fortbestand Israels. Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden

von Sabine Brandes  16.09.2025

Kommentar

Das Geraune von der jüdischen Lobby

Der Zürcher »Tages-Anzeiger« befasst sich kritisch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der die Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese an der Uni Bern gefordert hatte. Dabei war diese Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Meinung

Lasst uns nicht allein!

Nach dem Canceln von Lahav Shani durch das Flandern-Festival in Gent befürchtet Maria Ossowski, dass Juden Europa jetzt verlassen wollen

von Maria Ossowski  11.09.2025

Meinung

Gent: Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Meinung

Wenn Wutausbrüche Diplomatie ersetzen

So verständlich der Frust ist, tut sich Israels Regierung mit ihrer aggressiven Kritik an westlichen Regierungen und ihren Einreiseverboten für europäische Politiker keinen Gefallen

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Meinung

Bitte mehr Sorgfalt, liebe Kollegen!

Weltweit haben Medien die Geschichte verbreitet: In Gaza sei ein hilfesuchendes Kind von Israelis erschossen worden. Es stimmt nur nicht, wie sich nun herausstellt. Von professionellen Journalisten darf man eigentlich mehr erwarten

von Susanne Stephan  08.09.2025

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Einseitig, fehlerhaft, selbstgerecht

Die »International Association of Genocide Scholars« bezichtigt Israel des Völkermords. Die Hamas spricht sie von jeder Verantwortung für die Lage in Gaza frei. Eine Erwiderung

von Menachem Z. Rosensaft  05.09.2025