Schon bei Wilhelm Busch ist zu lesen:
»Nicht allein das ABC, bringt den Menschen in die Höh. Nicht allein im Schreiben, Lesen, übt sich ein vernünftig Wesen. Nicht allein in Rechnungssachen soll der Mensch sich Mühe machen. Sondern auch der Weisheit Lehren, muss man mit Vergnügen hören. Dass dies mit Verstand geschah, war der Lehrer Lämpel da.«
Richtig, das war jener Mann mit dem berühmten ausgestreckten Zeigefinger, dem die bösen Buben Max und Moritz Schwarzpulver ins Pfeifchen füllten, weil sie der Weisheit Lehren nicht unbedingt mit Vergnügen hörten.
Am Ende der Geschichte werden die beiden im Dorf verhassten Kinder vom Bauern Mecke zur Mühle gebracht, wo sie zerschrotet und anschließend den Enten zum Fraß vorgeworfen werden. Der Lehrer Lämpel freut sich über die gerechte Strafe: »Dies ist wieder ein Exempel!« ruft er aus.

Ähnlich oberlehrerhaft geht es auch heute zu. Zum Beispiel, wenn in deutschen Medien über Israel und den Krieg in Gaza gefachsimpelt wird.
Gefühlt besteht dann die ganze Nation aus Experten. Wer Israel noch nicht kritisiert, wer die rechtsextreme, rassistische Regierung des jüdischen Staates noch nicht verurteilt und Netanjahu noch nicht einen kaltblütigen Kindermörder genannt hat, gilt nichts im deutschen Feuilleton. Und schon gar nicht in den sozialen Medien.
Die moralische Empörung über Israel ist nicht nur »en vogue« (das war sie schon des Öfteren). Nein, in diesen Tagen ist sie erste Bürgerpflicht. Das wird man doch noch sagen dürfen, ohne gleich als Antisemit bezeichnet zu werden, heißt es dann hinter vorgehaltener Hand.
Kenntnis über den Nahen Osten, Fachwissen über die asymmetrische Kriegsführung der Hamas oder gar Verständnis, dass Israel es mit einer nach wie vor funktionsfähigen Terrororganisation zu tun hat, sind nicht notwendig. Wozu auch, sie würden doch nur die Klarheit der Meinungsäußerung trüben.
Extrascharfer Senf
Um den Deutschen ein guter Oberlehrer zu sein, muss man auch kein Lehramtsstudium mehr absolvieren. Journalist oder Influencer reicht völlig. Dann darf man »frei vom Würgegriff der Kollektivschuld über das israelische Unrecht in Gaza sprechen« (Fabian Huber im »Stern«) oder den tödlichen Anschlag auf zwei israelische Botschaftsmitarbeiter in Washington mit den Worten kommentieren: »Wieder einmal müssen Menschen für Taten der israelischen Regierung sterben.«
Auch als pensionierter Richter darf man selbstverständlich seinen Senf zum Nahostkonflikt dazugeben, es herrscht schließlich Meinungsfreiheit in Deutschland. Der Senf des Thomas Fischer, einst am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und seit seiner Pensionierung als Kolumnist tätig, ist meist extrascharf.
Im »Spiegel« hat Fischer jetzt über »Hunger als Waffe« doziert. Er hat die Sache genauestens geprüft, zitiert ausführlich mögliche infrage kommende Straftatbestände aus dem Völkerstrafrecht und kommt zu einem eindeutigen Schluss: »Wenn Sie einmal die (spärlichen) Nachrichten aus Gaza im Hinblick auf die oben zitierten prüfen, wird Ihnen auffallen, dass die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale in vielen Fällen naheliegt.«
Unseren Kolumnisten treibt hier natürlich nicht die Sorge um, dass die Hamas die Menschen in Gaza seit Jahren absichtlich hungern lässt, dass sie Hilfslieferungen für sich abzweigt und ausländische Gelder lieber für den Nachschub an Waffen als an Lebensmitteln verwendet. Nein, der Leser hat es gemerkt: Fischer geht es um Israel.
Israel ist der immer Schurke
Denn, auch das ist nun offensichtlich: Nach 18 Monaten Krieg in Gaza ist der Hauptschuldige längst nicht mehr die Hamas, wie kurz nach dem 7. Oktober 2023, als Israel noch ein legitimes Recht auf Selbstverteidigung besaß. Und das, obwohl die Hamas immer noch Dutzende israelische Geiseln in ihrer Gewalt hat. Nein, Israel und seine Regierung hintertreiben laut Fischer mit kriminellen Mitteln den Frieden und das Wohlergehen der Menschen. Ausführlich zitiert er die einschlägigen Paragrafen des deutschen Völkerstrafgesetzbuches.
Wenn man Wikipedia glauben darf, diente Thomas Fischer Mitte der 70er Jahre selbst ein paar Wochen lang als Panzerjäger bei der Bundeswehr. Dann kamen ihm wohl Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Tätigkeit. Fischer verweigerte den Wehrdienst. Das war damals keine ganz einfache Sache. Er leistete Zivildienst beim Arbeiter-Samariterbund und diente Deutschland als Rettungssanitäter.
Er kennt sich also aus mit Fragen der Kriegsführung. Und er kennt sich aus mit der humanitären Versorgung von Menschen. Deswegen war es richtig, dass der »Spiegel« ihm ausführlich Platz einräumte für eine Einordnung der aktuellen Lage in Gaza. Nur ausgewiesenen Nahostexperten wie dem indischen Essayisten Pankaj Mishra wird sonst eine solche Ehre zuteil.
»Wie Ratten in einem Käfig hin- und hergetrieben«
Schnell kommt Fischer zum Punkt: Es sei doch offenkundig, dass der Regierung Netanjahu die »tiefen Sorgen« und das bedenkenvolle Murmeln des Bundeskanzlers vollständig gleichgültig seien, solange nur der Nachschub an deutschem Kriegsgerät rolle. Die »militärische Spezialoperation der israelischen Staatsführung« habe »schon lange jede Grenze der Verhältnismäßigkeit überschritten«, so der renommierte Strafrechtler in kaum verhohlener Anspielung an Putins brutalen Ukraine-Feldzug.
Leider muss man genau das auch über Fischers Rhetorik sagen. Denn schon im nächsten Satz verliert auch er jedes Maß an Verhältnismäßigkeit. »Der Krieg zur Vernichtung der Hamas« werde von Israel geführt, indem die »Zivilbevölkerung in einem verbrecherischen Maß schikaniert, getötet, wie Ratten in einem Käfig hin- und hergetrieben, terrorisiert und von lebensnotwendiger Versorgung abgeschnitten wird«, schreibt Fischer. Die Vorgänge in Gaza erinnerten ihn an »Strategien aus dem Vietnamkrieg«, so der 72-Jährige. Auch bei diesem Thema kennt er sich offenbar aus.
Israels Regierung ist für Fischer nicht viel besser als die Hamas. Zur Diskussion um die Zahl der im Krieg Getöteten schreibt Fischer: »Warum in der deutschen Presse Mitteilungen der Gaza-Gesundheitsbehörde mit dem Hinweis versehen werden, diese sei ›von der Hamas kontrolliert‹, ist rätselhaft: Die Mitteilungen Israels sind von dessen rechtsradikaler Regierung kontrolliert. Über das unerhörte Vorgehen Israels zur Delegitimierung internationaler Organisationen wird vielfach berichtet wie über eine Auseinandersetzung über verschiedene, jeweils vertretbare Meinungen. Das ist es aber nicht.«
Mit der Delegitimierung internationaler Organisationen meint der Kolumnist wahrscheinlich die UNRWA, der Israel die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte, nachdem bekanntgeworden war, dass UNRWA-Mitarbeiter in die Massaker des 7. Oktober 2023 verstrickt waren.
»Nicht mehr tatenlos zusehen«
Fischer war noch nie zimperlich, wenn es darum ging, klar und deutlich Position zu beziehen. Mit der Diplomatie hat er es nicht so. »Wenn Deutschland das Wohl Israels am Herzen liegt, muss es seine Kraft ernsthaft (!) dafür einsetzen, dass nicht eine rechtsradikale, rassistische Regierung das Land immer mehr in Isolierung und Zerrissenheit führt. Die Bundesrepublik schuldet nicht der Regierung Netanjahu Freundschaft und Unterstützung, sondern dem Staat Israel und seiner Bevölkerung. Die Bundesregierung sollte sich der starken Bewegung in der EU anschließen, die dem Vorgehen Israels nicht mehr tatenlos zusehen will.« Er spricht es nicht offen aus, aber Fischer meint wohl die Suspendierung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens und die Anerkennung des Staates Palästina, wie von vielen mittlerweile gefordert.
Fischer interessiert auch wenig, dass es Israels Bevölkerung war, die in demokratischen Wahlen mehrheitlich die Netanjahu-Regierung gewählt hat. Fischer ignoriert, dass es junge Leute aus allen Teilen der israelischen Gesellschaft sind, die momentan in der Armee ihren Wehrdienst leisten und ihn nicht wie er vor 50 Jahren verweigern können.
Er verschweigt auch, dass die Hamas nach wie vor aktiv und kampffähig ist, dass sie in den letzten Tagen erneut LKW mit Hilfslieferungen überfallen und gekapert hat. Mit möglichen Gegenargumenten hält Fischer sich nicht weiter auf. Sie würden schließlich seine klare Argumentation unterminieren.
Lieber unternimmt er – auch, um Missverständnissen bezüglich seiner Israelkritik vorzubeugen – noch einen Schlenker in die Innenpolitik. Mit der Lage in Deutschland, schreibt er, habe »das alles (fast) gar nichts zu tun«, denn, so Fischer: »Hierzulande werden nicht Palästinenser oder Muslime von Juden angegriffen und bedroht, sondern Juden von Judenfeinden. Wer das nicht auseinanderhält und Differenzierung von Problemen nicht hinkriegt, ist nicht solidarisch (mit wem und was auch immer), sondern dumm.«
Fischer in der Tradition von Günter Grass
Warum seit dem 7. Oktober 2023 Juden in Deutschland in seit 1945 nicht gekanntem Ausmaß von Judenfeinden angegriffen werden, erfährt der »Spiegel«-Leser nicht. Auch zur Debatte darüber, wann Israel-Kritik antisemitisch ist, trägt Fischer wenig bei. Seine Senftube ist offenbar schon leer.
Dem Oberlehrer Lämpel aus »Max und Moritz« hätte der schneidige Ton des Fischer’schen Beitrags sicher gefallen. Und auch viele »Spiegel«-Leser werden sich an dem Text ergötzt haben. Lag nicht der letzte auf der Seite des Hamburger Nachrichtenmagazins veröffentliche Kommentar, der von Dunja Ramadan mit dem Titel »Schluss mit dem deutschen Rumgedruckse«, schon zehn Stunden zurück? Von manchen Themen kann man bekanntlich nie genug kriegen. Auch in deutschen Leitmedien grüßt täglich das Murmeltier der Israelkritik.
Obwohl dieser Text nun schon fast so lang geraten ist wie sonst nur die Kolumnen des Thomas Fischer, sei es dem Verfasser zum guten Schluss gestattet, noch einen anderen großen Deutschen zu zitieren. Einen, der 2012 schon sah, wohin das alles führen würde, und der kurz vor seinem Tod mutig die Stimme gegen den mutmaßlichen Aggressor Israel erhob.
»Ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern ...« Das schrieb Günter Grass in seinem Gedicht »Mit letzter Tinte«.
Der Tag ist hoffentlich nahe, an dem die deutschen Israelkritiker endlich Genugtuung erfahren werden und wie einst die Geschädigten von Max und Moritz freudig ausrufen können: »Gott sei Dank, nun ist’s vorbei, mit der Übeltäterei.«