Moderne

Zweifel und Aha-Erlebnisse

»Radikale Frühaufklärung in Deutschland« von Martin Mulsow

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Zweifel und Aha-Erlebnisse

Der Historiker Martin Mulsow stellt in zwei Bänden die radikale Frühaufklärung in Deutschland vor

von Harald Loch  07.02.2019 13:27 Uhr

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Wer glaubt, eine investigative Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit könne nicht spannend sein, der nehme die beiden Bände Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720 von Martin Mulsow zur Hand. Es geht im ersten Band um Moderne aus dem Untergrund, im zweiten um Clandestine Vernunft. Der Verfasser ist Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt.

Mulsow gilt als der umfassend gebildete Detektiv unter den Philosophiehistorikern und ist in der europäischen gelehrten Welt um 1700 wie kein anderer zu Hause. Der erste Teil ist aus Mulsows Münchner Habilitationsschrift hervorgegangen, die vor erst gut 15 Jahren etwa zeitgleich mit Jonathan Israels Radical Enlightenment (vgl. Jüdische Allgemeine vom 16. Oktober 2017) ein inzwischen in ganz Europa etabliertes Forschungsgebiet begründet hat.

STRÖMUNGEN Die Zeit um 1700 muss sehr fruchtbar gewesen sein: Die unübersehbar vielfältige intellektuelle Landschaft der Frühaufklärung war Ausdruck der »crise de la conscience européenne«. Diese Vielfalt verlangt, dass der Autor Hunderte von kaum bekannten damaligen Freidenkern und verfolgten Autoren benennt und aus dem Vergessen hervorholt. Er hat dazu nahezu 100 handschriftliche Quellen herangezogen, die er oftmals erst entziffern musste. Sie stammen aus den einschlägigen Archiven in ganz Europa. Die Bibliografie der gedruckten Quellen umfasst über 30 Seiten, die der internationalen Forschungsliteratur enthält annähernd 1500 Titel.

Was daraus entstanden ist, hat vielleicht Kurt Flasch am treffendsten gewürdigt: »Die Bedeutung des monumentalen Werkes von Mulsow liegt darin, dass er bisher getrennte Strömungen vereinigt: die ideengeschichtliche Erforschung der Aufklärungsphilosophie, die bibliothekarische Erfassung der Clandestina und die Analyse der Kommunikationsweisen in der europäischen Gelehrtenrepublik um 1700.«

In einer Zeit von Zensur und Verfolgung konnte meist nur anonym veröffentlicht werden.

Die Geschichte der radikalen intellektuellen Prozesse der frühen Aufklärung, die Mulsow durch unnachgiebige Befragung der Quellen aufdeckt, die Entdeckungen, an denen er seine Leser teilhaben lässt, die Korrekturen, die er an oberflächlicheren Beschreibungen vornimmt – alles das ist atemberaubend und zudem fesselnd erzählt.

Was in einer Zeit von Zensur und Verfolgung im weltlichen und christlichen Absolutismus oft anonym geschrieben, manchmal sogar veröffentlicht wurde, ist nicht immer der Klartext der dahinterstehenden Gedanken. Verschlüsselung, Ironie, Perspektivenverlagerung in erfundene Erzählfiguren, Möglichkeitsformen aller Schattierungen fand der Verfasser in den meist klandestin verfassten Quellen, deren eigentlicher Gehalt erst im Kontext mit Briefkorrespondenzen oder externen Kritiken erschlossen werden konnten. Studentenulk mutierte mitunter zur Idee, auf die bisher niemand gekommen war, zu weiterführenden Gedanken.

Die radikalen Frühaufklärer stellten vieles infrage, errichteten aber keine homogene Gedankenwelt.

WIDERLEGUNG Vieles hatte einen religionskritischen, zuweilen auch antichristlichen Gehalt. Der Anteil der jüdischen Frühaufklärer, die sich besonders mit der Widerlegung von christlichen Weissagungsideologien beschäftigten, löste bei manchen radikalen Frühaufklärern, die zumeist christlich sozialisiert waren, ein Aha-Erlebnis aus. Naturwissenschaftliche und medizinische Forschung bestärkten die Zweifel an vermeintlich unumstößlichen Glaubensgrundsätzen.

Die radikalen Frühaufklärer stellten vieles infrage, errichteten aber keine homogene Gedankenwelt, sondern sie vermitteln ein farbiges, oft widersprüchliches und abenteuerliches Bild intellektueller Vielfalt. Ohne die erforderliche Freiheit wagten sich Freidenker aus der Deckung.

Das Panorama, das Mulsow ausbreitet, wirkt wie ein früher Samisdat. Der freie Geist von Denkern hinterließ auch in unfreier Zeit ein fortwirkendes Fundament, auf dem die Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant entstehen konnte. Dieses durchaus noch schwankende Fundament sichtbar erscheinen zu lassen, verleiht Mulsows Werk seine überragende Bedeutung.

Martin Mulsow: »Radikale Frühaufklärung in Deutschland«, Band 1: »Moderne aus dem Untergrund«, 502 S., Band 2: »Clandestine Vernunft«, 624 S., Wallstein, Göttingen 2018, zusammen 59,90 €

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