Graphic Novel

»Zeit in Raum verwandeln«

Ken Krimstein über sein Buch zu Hannah Arendt und den Sinn des Lebens im Comic

von Ayala Goldmann  02.02.2020 07:54 Uhr

Comic-Zeichner Ken Krimstein Foto: Marco Limberg

Ken Krimstein über sein Buch zu Hannah Arendt und den Sinn des Lebens im Comic

von Ayala Goldmann  02.02.2020 07:54 Uhr

Herr Krimstein, wie kamen Sie auf die Idee, eine Graphic Novel über Hannah Arendt zu machen?
Comics sind fantastisch, um komplizierte Ideen und Geschichte zu erklären. Sie ziehen dich so in eine Story hinein, wie es das geschriebene Wort allein nicht könnte.

Seit wann mögen Sie Comics?
Ich habe Comics schon als Kind geliebt. Als ich noch sehr jung war, habe ich ein Päckchen seltsamer Comics geerbt, »Classics Illustrated«. Die haben Geschichte geschrieben. Das waren zum Beispiel fantastische Geschichten über den Bürgerkrieg. Art Spiegelman, der Zeichner von »Maus«, hat einmal gesagt, dass Comics auf großartige Weise Zeit in Raum verwandeln. Ich wollte das auch. Und dann habe ich Hannah gefunden.

Was wussten Sie über ihr Leben?
Ich wusste nicht viel über sie. Ich kannte ihren Ausdruck »Banalität des Bösen«, habe ihn nicht wirklich verstanden, aber für mich klang das sehr interessant. Ich kannte auch den Titel ihres Buchs »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« und fand das faszinierend, also habe ich angefangen, es zu lesen.

Sie reden über »Hannah«, als ob sie eine Freundin wäre.
Als ich ihre Biografie gelesen habe, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich hätte meine fehlende zweite Hälfte gefunden – obwohl ich verheiratet bin.

Warum das?
Alles, was sie in ihrem Leben seit ihrer Kindheit getan hatte, war so interessant! Die Weimarer Zeit mit Fritz Lang und Billy Wilder, und sie war dabei. Ich liebe die Surrealisten, die sie kannte, als sie in Marseille im Exil war, ich liebe die Intellektuellenszene von New York, und sie war ein Teil davon. Und als ich mich mit ihren Ideen auseinandergesetzt habe, war das für mich, als ob John Coltrane Jazz spielt.

Also wollten Sie das Leben dieser Frau zeichnen.
Ja, denken Sie nur an die Bilder! Sie wuchs in Ostpreußen auf, als das Automobilzeitalter gerade begann, und sie starb an der Upper West Side von Manhattan, wo ich lebte, nachdem die Ramones angefangen hatten, Punk Rock zu spielen, und Nixon zurückgetreten war. Was für ein Leben!

Sie haben einmal gesagt, einen Comic zu zeichnen, sei für Sie »dem Leben Sinn zu geben«. Auch Hannah Arendt hat das versucht. Ist das der Grund, warum Sie sich mit ihr verbunden fühlen?
Ich denke, dass sowohl Hannah als auch wir Cartoonisten versuchen, die Welt zu erklären, aber wir sind nicht engstirnig. Wir gehen weiter als gewöhnlich, und man erinnert sich daran.

Sie haben die Biografie von Elisabeth Young-Bruehl für Ihre Graphic Novel als Vorlage genutzt …
Definitiv. Sie war die Erste, die über Hannah Arendts Privatleben und ihre Affäre mit dem deutschen Philosophen Martin Heidegger geschrieben hat, über den Spannungsbogen zwischen persönlicher Beziehung und Theorien.

Was denken Sie, was wird den Leser eher interessieren – Arendts Theorien oder ihr Liebesleben?
Beides, denn es ist die Biografie einer Philosophin, und es geht um die Beziehung zwischen ihren Gedanken und ihrem Leben. Auch in ihrer Philosophie glaubt sie daran, dass Handeln, also das, was wir tun, was wir über uns selbst in der Welt enthüllen, unsere Realität ist. Ich bin kein Philosoph, aber ich mag Existenzialismus, und dabei geht es darum, was man tut. Und ihr Handeln musste einen Effekt haben. Ich wusste übrigens nichts über ihre Affäre mit Heidegger, als ich begann, die Biografie von Elisabeth Young-Bruehl zu lesen. Ich war schockiert. Ich habe jedes einzelne Detail der Korrespondenz gelesen. Hannah hat sehr viel darüber geschrieben. Aber Sie müssen verstehen, dass mein Buch eine Geschichte über eine Person ist, die Hannah Arendt genannt wird. Sie hat ein weiteres Buch geschrieben, »Menschen in finsteren Zeiten«, eine Sammlung ihrer Essays. Sie sprach über Walter Benjamin, über Bertolt Brecht, und so dachte ich, dass ich über sie sprechen könnte.

Meinen Sie, Ihr Comic hätte Hannah Arendt gefallen?
Sie hat ihr öffentliches Leben sehr strikt von ihrem Privatleben getrennt. Ob ihr mein Buch gefallen hätte, ist völlig egal.

Hätten Sie sie gemocht, wenn Sie ihr persönlich begegnet wäre?
Ich hätte sie gemocht, aber nicht als Dozentin. Sie war sehr streng. Nein, ich glaube, ich hätte Angst vor ihr gehabt. Aber was ich am sympathischsten an ihr finde, ist, dass sie so ein unabhängiger Kopf war.

Sie haben eine Szene gezeichnet, in der Heidegger versucht, sich schriftlich für sein Verhalten während der NS-Zeit zu rechtfertigen, und Hannah Arendt hat darauf nur eine Antwort: »Bla, bla, bla.«
Ja, er hat nur herumgeschwafelt. Aber ich würde jetzt gerne erklären, wie ich meine Graphic Novel aufgebaut habe. Es gibt ganz klassisch drei Akte, ich nenne sie drei Fluchten: zuerst ihr Entkommen aus der Gestapo-Haft in Berlin und ihre Reise 1933 nach Prag ins Exil, zweitens ihre Flucht aus Frankreich in die USA, und drittens ihre psychologische Befreiung von Heideggers Philosophie.

Welche Details waren Ihnen wichtig?
In Young-Bruehls Buch gab es eine Geschichte, die ich sehr merkwürdig fand. Hannah ging eines Abends zu einer bekannten Graphologin und brachte ihr die Handschriften von Walter Benjamin und Martin Heidegger. Ihre Fragen zu Hei­degger waren ziemlich seltsam. Sie fragte die Graphologin, ob Heidegger verheiratet sei, und die Antworten waren genauso seltsam. Dabei wird Hannah Arendt allgemein als unsentimentale Rationalistin wahrgenommen, und hier stellte sie sehr emotionale Fragen. Es ist ein großer Widerspruch, der ungelöst bleibt. Meine Interpretation ist, dass sie Heideggers Theorien guthieß, ihm als Privatmensch aber abschwor.

In einer Szene spricht Hannah Arendt das Kaddisch. Für wen?
Danke, dass Sie das erwähnen. Das hat mich sonst niemand gefragt, und ich habe wie verrückt an dieser Szene gearbeitet. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Mein Vater ist vor Kurzem gestorben. Ich habe versucht, mit Verlust und Veränderung klarzukommen. Vielleicht hat es auch damit zu tun. Oder damit, dass die jüdische Tradition im 20. Jahrhundert erschüttert wurde, durch den Zivilisationsbruch der Schoa.

War Arendt in irgendeiner Hinsicht religiös?
Ich weiß es nicht, sie hatte auf jeden Fall eine starke jüdische Identität. Aber im Kaddisch-Gebet geht es nicht um den Tod, sondern um das Leben. Ich wollte etwas zeigen, das einen inneren Abschluss repräsentiert. Ein Moment des Übergangs in ihrem Dasein. Sie musste allen Illusionen entsagen und ihre Liebe für die Welt, ihre »amor mundi« annehmen. Hannah Arendt hatte keine Kinder, aber die ganze Welt wurde zu ihren Kindern.

Wissen Sie, warum sie keine Kinder hatte?
Ich nehme an, sie war zu beschäftigt. Aber ich weiß es nicht. Als sie 1941 nach New York kam, war sie nicht die berühmte Hannah Arendt, sondern nur ein Flüchtling, mit ihrer Mutter im Schlepptau. Sie musste als Au-pair-Mädchen arbeiten, während ihr zweiter Mann Heinrich Blücher, ebenfalls Philosoph, Plastik mischte. Das Problem war, dass Hannahs Mutter Heinrich Blücher, einen Nichtjuden, nicht ausstehen konnte. Aber die drei haben trotzdem in New York in einer winzigen Wohnung zusammengelebt. Und sie hat oft draußen auf der Straße geraucht.

Warum haben Sie so viele Szenen eingebaut, in denen Arendt eine Zigarette in der Hand hält?
Weil Rauch in Comics einfach gut aussieht. Und es war damals ein wichtiger Teil der Kultur.

Und warum arbeiten Sie in dem Buch mit den Farben Schwarz, Weiß und Grün?
Die Farbe Grün hat eine ambivalente Botschaft. Sie steht für Leben, aber auch für Verfall. Das passt zu Hannah Arendt. Sie hat gesagt: Es gibt keine gefährlichen Gedanken. Das Denken an sich ist gefährlich.

Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Ich unterrichte Studenten, und ich habe Kinder, die in ihren 20er-Jahren sind. Ich finde, es darf nicht sein, dass Menschen nicht wissen, wer Fritz Lang und Bertolt Brecht sind. Man kann doch nicht alles Google überlassen. Ich möchte ein Gespräch darüber beginnen, und Hannah Arendt wäre mit mir einer Meinung darüber, dass dieses Gespräch niemals endet.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie 60 Cartoons pro Woche zeichnen …
Früher, jetzt nicht mehr. Ich arbeite an einem neuen Buch.

Worüber?
Das YIVO Institute for Jewish Research in Wilna hat vor dem Zweiten Weltkrieg eine größere Studie über Teenager gemacht. Unlängst wurden Hunderte von anonymen jiddischen Tagebuchaufzeichnungen entdeckt. Es war ein Wettbewerb. Ich mache Zeichnungen zu sechs dieser autobiografischen Aufzeichnungen.

Wann soll Ihr Buch erscheinen?
Wahrscheinlich nach den Präsidentschaftswahlen im November 2020 in den USA. Es wird noch etwas dauern.

Mit dem amerikanischen Autor und Cartoonisten sprach Ayala Goldmann.

Ken Krimstein: »Die drei Leben der Hannah Arendt«. Aus dem Amerikanischen von Hanns Zischler. dtv, München 2019, 244 S., 16,90 €

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