Thesen

Zeichen des Staatsversagens

Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist Foto: imago

Der Aufruf zur Zivilcourage ist im Kern die Aufforderung zur Selbstjustiz und zum Bürgerkrieg. Diese provokante und gerade deshalb umso interessantere These formuliert der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn in seinem jüngsten Buch Zivilcourage. Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt.

Ausgangspunkt für Wolffsohns These ist Gerhard Schröders berühmtes Wort vom »Aufstand der Anständigen«, den der damalige Bundeskanzler als Reaktion auf den Anschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge im Oktober 2000 forderte. Dabei liest man mit großem Genuss, wie Michael Wolffsohn politische Phrasen seziert und nur halb Gedachtes zu Ende denkt.

staatsstreich Was anfangs wie Wortklauberei daherkommt, entwickelt sich so zu originellen Erkenntnissen. Der von Schröder geforderte »Aufstand der Anständigen« etwa ist für Wolffsohn ein Aufruf zum Staatsstreich, da sich Aufstände ausschließlich gegen Staaten und nicht gegen randalierende Neonazis oder U-Bahn-Schläger richten.

Zivilcourage ist laut Wolffsohn ein Zeichen für Staatsversagen, da sie immer dort gefordert wird, wo der Staat seine Schutzfunktion nicht erfüllt. Dass Zivilcourage oft tödlich endet, zeigt der Fall von Tugce Albayrak, die bei dem Versuch, zwei von einer Männergruppe bedrängten Frauen zu helfen, von den Männern niedergeschlagen wurde und später im Krankenhaus an ihren Verletzungen starb.

konzepte Die Forderung nach mehr Zivilcourage seitens der Politik zeigt für Michael Wolffsohn lediglich, dass keine durchdachten Konzepte zur Verbrechens- und Terrorbekämpfung vorliegen, stattdessen soll der Bürger staatliche Hoheitsaufgaben übernehmen und das Gewaltmonopol zumindest teilweise an sich reißen. Die Hilflosigkeit der Politik beschreibt Wolffsohn äußerst detailreich an Beispielen von Dominik Brunner bis zum Anschlag auf den Thalys-Zug vor einem Jahr.

Zivilcourage ist ein ebenso interessantes wie kurzweiliges Buch. Trotz des oftmals redundanten und belehrenden Schreibstils gelingt es Michael Wolffsohn, auf knapp 100 Seiten einen völlig konträren und, auf den ersten Blick, recht aberwitzigen Standpunkt sowohl eloquent als auch faktenreich zu vertreten. Er tut dies so überzeugend, dass einen die Thesen des Buches noch lange nach der Lektüre beschäftigen.

Michael Wolffsohn: »Zivilcourage. Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt«. dtv, München 2016, 96 S., 7,90 €

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann wird heute mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt. Bislang schwieg sie zur scharfen Kritik an ihrer Arbeit. Doch jetzt antwortete die ARD-Journalistin ihren Kritikern

 04.12.2025

Antisemitismus

Schlechtes Zeugnis für deutsche Schulen

Rapper Ben Salomo schreibt über seine Erfahrungen mit judenfeindlichen Einstellungen im Bildungsbereich

von Eva M. Grünewald  04.12.2025

Literatur

Königin Esther beim Mossad

John Irvings neuer Roman dreht sich um eine Jüdin mit komplexer Geschichte

von Alexander Kluy  04.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter, Imanuel Marcus  04.12.2025

Show-Legende

Mr. Bojangles: Sammy Davis Jr. wäre 100 Jahre alt geworden

Er sang, tanzte, gab den Spaßmacher. Sammy Davis Jr. strebte nach Erfolg und bot dem Rassismus in den USA die Stirn. Der Mann aus Harlem gilt als eines der größten Showtalente

von Alexander Lang  04.12.2025

Preisvergabe

Charlotte Knobloch kritisiert Berichterstattung von Sophie von der Tann

Dass problematische Berichterstattung auch noch mit einem Preis ausgezeichnet werde, verschlage ihr die Sprache, sagt die Präsidentin der IKG München

 04.12.2025

Philosophie

Drang zur Tiefe

Auch 50 Jahre nach ihrem Tod entzieht sich das Denken Hannah Arendts einer klaren Einordnung

von Marcel Matthies  04.12.2025

Kulturbetrieb

»Wie lange will das politische Deutschland noch zusehen?«

Der Bundestagskulturausschuss hörte Experten zum Thema Antisemitismus an. Uneins war man sich vor allem bei der Frage, wie weit die Kunstfreiheit geht

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025