Ausstellung

Zeichen der Übergänge

Asketische Ästhetik, reduzierte Präsentation: Auch bei dieser Ausstellung bleibt das Jüdische Museum München seiner Linie treu. Foto: Franz Kimmel

Die Quadratur des Kreises ist bis heute ungelöst. Aber ein Rechteck zum Kreis umzubauen, dieses Kunststück gelingt dem Jüdischen Museum München. Denn auf den zwei oberen, den Wechselausstellungen vorbehaltenen Ebenen des Hauses hat der Wiener Ausstellungsarchitekt Martin Kohlbauer die reizvolle Idee gehabt, die neue Ausstellung »Alles hat seine Zeit« in den rechteckigen, übereinander gestapelten Sälen als einander ergänzende, weil seitenverkehrt gespiegelte, ausgreifende Halbkreise zu inszenieren. Schließlich ist der Lauf der Zeit schon immer als Kreislauf gezeichnet worden, als ineinander greifende Übergänge, als klimatische, biografische, religiöse, nationale Passagen.

kreislauf »Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:/Eine Zeit zum Gebären/und eine Zeit zum Sterben,/eine Zeit zum Pflanzen/und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,/eine Zeit zum Töten/und eine Zeit zum Heilen«, heißt es im Buch Kohelet. Auf solche Erinnerungsanker, Zäsuren im Jahreskreis wie im Lebenszyklus, bezieht sich die Schau. In 15 kurzen Kapiteln steht das Religiöse neben dem Individuellen, das Große neben dem Kleinen, große Feierlichkeiten neben kleinen Festen.

Jede Sektion ist überschrieben mit »Erinnerung an«. Einsetzend im zweiten Obergeschoss, beginnt es mit »Erinnerung an den Tempel«, um dann über Leben, Liebe, Kindheit und den Übergang zum Erwachsenenalter (Bar- und Batmizwa) die Endlichkeit zu erreichen. So spannt sich der Bogen hier von der Brit Mila zum Kaddisch. Im ersten Stock dagegen lauten die Erinnerungs-Stichworte »Unendlichkeit«, »Schöpfung«, »das Böse«, »das Gesetz«, »die Offenbarung«, »der Sieg«, »die Wanderung« und »die Befreiung«. Und reichen vom Purimfest über Schawuot und das Omerzählen zu Chanukka, Sukkot und Pessach.

passagen Auch mit der eloquenten Gastkuratorin Felicitas Heimann-Jelinek, bis 2011 viele Jahre lang als angesehene Chefkuratorin am Jüdischen Museum Wien tätig, bleibt das Münchner Haus am Jakobsplatz seiner Linie zu asketischer Präsentation, gedämpfter Reduktion und einer sehr überschaubaren Exponatauswahl treu. Diesmal ist die Ausstellung fast noch leseintensiver als üblich. Zu einer Vielzahl von Stationen gibt es lediglich zwei oder drei Exponate, die mittels eines ausliegenden broschierten Guides erklärt werden. Das Passagenartige, das Mystische, das von Erlösung Umflorte wie das von Schmerz Getränkte bleiben so überwiegend angetippt, manches mutet eher skizzenartig an, als Vorstufe der klugen Beiträge im umfangreichen, die Lektüre lohnenden Begleitkatalog.

bordell Dabei deutet Heimann-Jelinek auf dem ihr zur Verfügung gestellten begrenzten Platz an, dass es auch anders hätte gehen können. Denn als Medien kollektiver Erinnerung und als optische Gegenanker sind den die Ränder begrenzenden weißen Gazeschleiern in beiden Sälen zwei schwarze Wände entgegengesetzt. Auf diesen hängen Fotoarbeiten der in Brooklyn, New York, lebenden Multimediakünstlerin Quintan Ana Wikswo, bearbeitete Aufnahmen der heute spurlos verschwundenen Bordellbaracke auf dem einstigen Gelände des KZ Dachau. Erinnerungen somit völlig konträrer Natur. Und in ihrer Eindringlichkeit das Individuelle mit dem Großen, dem Einzigartigen der Schoa verschmelzend.

Wikswo hat mit überlebenden Frauen dieser Stätte, an die heute nichts mehr auf dem Gelände erinnert, gesprochen und hat Interviewzitate für ihre die Bilder begleitenden, erschütternden Texte verwendet. Hier, im Zeigen des Nicht-Dokumentierten, im Vorführen der Auslöschung, der geografischen wie der sexuell selbstbestimmten, tritt die zweite Leitidee dieser Schau zutage: Strategien gegen das Vergessen zu zeigen. Dies geschieht schon im Treppenhaus, in dem – als symbolische 16. Station – das »Dachau-Lied« des Wiener Sozialisten Jura Soyfer erklingt, der versucht hatte, im März 1938 aus Österreich auf Skiern in die Schweiz zu entkommen, verhaftet wurde und elf Monate später in Dachau starb.

»Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen«. Jüdisches Museum München, bis 1. September. Der gleichnamige Katalog ist im Kehrer Verlag erschienen.
www.juedisches-museum-muenchen.de

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024