Svetlana Lavochkina

»Wir sind zum Überleben bestimmt«

Svetlana Lavochkina wurde 1973 in Saporischschja geboren. Die Autorin ist Mitglied der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Foto: Pavel Gitin

Svetlana Lavochkina

»Wir sind zum Überleben bestimmt«

Die Schriftstellerin über den Krieg, ihre Heimatstadt Saporischschja und ein neues Buch

von Ayala Goldmann  13.03.2022 08:40 Uhr

Frau Lavochkina, in der vergangenen Woche wurde das Gelände des Atomkraftwerks in der Nähe Ihrer Heimatstadt Saporischschja in der Ukraine beschossen. Haben Sie noch Freunde und Verwandte in der Stadt?
Oh ja. entfernte Verwandte und viele Freunde. Alle meine Klassenkameraden sind noch dort.

Sind Sie mit ihnen in Kontakt?
Ja, und sie sind Gott sei Dank immer noch unversehrt.

Wie leben Sie mit dieser Anspannung?
Wenn ich hier sitzen und weinen und mir vorstellen würde, welche Leiden meine Mitmenschen durchmachen, dann würde ich verrückt werden. Jede Minute tue ich etwas. Ich kümmere mich um Flüchtlinge und leiste humanitäre Hilfe. Und ich möchte ein Bewusstsein in Deutschland dafür schaffen, wie viel Schutz und Hilfe die Menschen in der Ukraine brauchen – aber auch, dass ihr Wille ungebrochen ist.

Waren wir gegenüber Putin naiv?
Deutschland hätte schon 2014 nach der Annexion der Krim handeln müssen. Die Sanktionen, die damals verhängt wurden, waren nicht hart genug. Putin hat verstanden, dass ihm kaum Widerstand entgegengesetzt wird und dass er sich so viel von der Ukraine nehmen kann, wie er wünscht. Ich habe schon damals öffentlich Stellung bezogen, aber jetzt bekomme ich mehr Aufmerksamkeit. Das liegt auch an einem makabren Zufall: Zwei Tage vor dem Beginn des Krieges, am 22. Februar, ist mein neues Buch »Die rote Herzogin« auf Deutsch erschienen, das in Saporischschja spielt.

Die Hauptfigur Chaim Katz ist ein sehr jüdischer Held. Wie sind Sie auf ihn gekommen?
Ich habe viel recherchiert über den Bau des Staudamms am Dnepr, auch über die Person des Bauleiters. Er war kein Jude, aber er könnte einer sein, wie viele Organisatoren der Industrialisierung damals.

Sie beschreiben den »Roten Terror« in der Ukraine, eine schreckliche historische Epoche, mit viel Humor und Lebensfreude. Ist das Ihr Temperament?
Eigentlich bin ich ziemlich zurückhaltend. Temperament im Schreiben ist nicht gleich Temperament im Leben. Es ist eine Frage der Energie. Man muss schweigen, damit man beim Schreiben schreien kann. Im normalen Leben bin ich übrigens apolitisch, ich möchte gar nicht so viel reden, aber seit dem Anfang des Krieges bleibt mir nichts anderes übrig.

Seit Ihrem 26. Lebensjahr leben Sie in Deutschland. Sie sind Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Leipzig. Sind sich dort alle einig, wie sie diesen Krieg beurteilen?
Das hoffe ich. Die Russen, die ich kenne, waren alle auf Demonstrationen gegen den Krieg. Es gibt auch einige, die sich vorsichtig anders äußern. Aber auch diejenigen, die Russland sonst unterstützen, sprechen uns an und sagen: Ich möchte gerne helfen, ich bereue, was ich bisher gedacht habe, es ist ein Albtraum, was Russland angerichtet hat.

Was denken Sie über den Boykott russischer Künstler, etwa über die Entlassung des Dirigenten Waleri Gergijew in München, der Putin nahesteht?
Ich denke, dass alle russischen Kulturmenschen, die dieses Regime unterstützen, sanktioniert werden müssen. Man muss jetzt Farbe bekennen. Wer für Putin wirbt, wie sein enger Freund Gergijew, schädigt die Weltkultur, und es steht uns frei, ihm den Rücken zu kehren.

Soll jeder russische Geiger oder Pianist sanktioniert werden?
Nein. Wenn jemand sagt, ich bin für die russische Kultur und die Zukunft, nicht für die Gegenwart des russischen Putinismus oder Faschismus, ich kann das nicht anders nennen, dann ist das in Ordnung. Leider gibt es in Russland viele Künstler, die Putin unterstützen. Das kann finanzielle Gründe haben, manche sind auch aufgrund ihres Alters dem Regime verfallen. Es ist sehr unbequem, in Russland Oppositioneller zu sein. Und es ist einfacher, eigene Projekte durchzusetzen, wenn die Regierung gnädig ist. Ich verüble das diesen Künstlern, aber ich stecke nicht in ihrer Haut. Die Russen müssen jetzt Zivilcourage zeigen – wie der Rocksänger Andrej Makarewitsch oder Boris Grebenschtschikow, die Idole ganzer Generationen. Briefe gegen Krieg haben Lehrer und Ärzte unterschrieben, Wissenschaftler und Journalisten.

Sie haben neulich einen Text veröffentlicht, in dem es heißt, Ihre Muttersprache, das Russische, sei jetzt »nur noch zum Fluchen da«. Meinen Sie das ernst?
Das ist natürlich eine Übertreibung. Ich benutze Russisch weiterhin im Alltag, ich spreche es mit meinem Mann und meinen Eltern. Ich habe kein Problem mit der russischen Sprache. In der Ukraine unterscheidet sich das Russisch, das dort gesprochen wird, übrigens sehr von dem, das man in Russland hört. Sobald jemand den Mund aufmacht, hört man, ob er aus der Ukraine ist oder aus Russland.

Im Gegensatz zu Klassenkameraden haben Ihre Eltern Sie in der Sowjetunion nicht vom Ukrainisch-Unterricht abgemeldet. Wie ist Ihre Beziehung zur Sprache?
Ich wusste immer, dass Ukrainisch sehr schön ist. In den späten 90er-Jahren ist die ukrainische Kultur aufgeblüht. Aber ich bin erst spät aktiv in dieser Sprache geworden und hätte früher nie gedacht, dass ich mich selbst einmal ins Ukrainische übersetzen würde.

Sie haben Ihre eigenen Bücher ins Ukrainische übersetzt?
Ja, wie mein neuestes Buch »Carbon«, das in den USA auf Englisch erschienen ist. Das ist eine große Saga über die Stadt Horliwka in der Nähe von Donezk in der Ostukraine. Dort habe ich studiert, und Freunde meiner Kommilitonen haben mir viele Insider-Informationen über den Bergbau, die Korruption und die Oligarchen geliefert. Die Zeit der Blüte von Donezk in den Nullerjahren, als es eine schöne, blühende europäische Stadt war, habe ich leider verpasst. Heute ist das vorbei.

Sie schreiben auf Englisch – in welcher Sprache fühlen Sie sich zu Hause?
Das ist situationsbedingt. Ich spreche von Quadrilingualität. Mit 23 Jahren habe ich mein Sprachstudium in Horliwka abgeschlossen. Danach wollte ich nach Moskau gehen und dort als Übersetzerin arbeiten. Es hat nicht geklappt, und ich war sehr enttäuscht. Ich musste nach Saporischschja zurückkehren und als Lehrerin an einer Schule arbeiten, und das habe ich gehasst.

Warum?
Lehrer waren Versager, sie haben nichts verdient. Alle haben auf Lehrer herabgeschaut. Ich bin nach Deutschland ausgewandert, weil ich wirtschaftlich in der Ukraine nicht überleben konnte. Mir fehlte der Geschäftssinn, der in dieser Zeit nötig war. Außerdem war der Antisemitismus in der Ukraine immer noch am Leben.

Wie haben Sie das gespürt?
In der Sowjetunion war das sehr präsent. Im Pass gab es ja die berühmte »fünfte Zeile«, die Volkszugehörigkeit, und wenn dort »Jude« stand, hat das immer gestört. An den Universitäten gab es für einige Studienrichtungen eine öffentlich nicht bekannte, aber wirksame Quote für Juden, und ich musste mich sieben Mal bewerben, bis ich angenommen wurde. Ich habe Moskau versucht, ein Punkt hat mir gefehlt – es passierte sehr »dezent«. Andere Male wurde es auch direkt begründet. Geklappt hat es schließlich in Horliwka, ich bekam nach der ersten Prüfung die Höchstnote. Denen war es egal, ob ich Jüdin bin oder nicht. Auch an Chanukka letztes Jahr gab es übrigens antisemitische Vorfälle, ein Chanukkaleuchter in Dnipro wurde umgestürzt. Das schmerzt mich sehr. Ich hoffe, dass nach dem gewonnenen Krieg alle Nationen zueinander finden.

Sie sind sicher, dass Putin verliert?
Es kann nicht anders sein. Die Frage ist nur der Preis – und wie lange es dauert. Wir sind zum Überleben bestimmt, und wir können nur gedeihen, wo Freiheit herrscht.

Spüren Sie in Deutschland Antisemitismus?
Bis jetzt bin ich davon verschont geblieben. Als Literat bringt es sogar Vorteile, jüdisch zu sein: Jüdische Schriftsteller gelten als interessant. Die Menschen wollen erfahren, wie es in der Sowjetunion war als Jude. Überhaupt möchten sie hören, was Judentum bedeutet und welche Feiertage wir feiern.

Gibt es in Ihrer Familie jüdische Traditionen?
Meine Urgroßeltern waren sehr religiös. Meine Großeltern haben Pessach und Rosch Haschana gefeiert. Gebetet hat man nicht – religiöse Erziehung war verboten. Erst 1996 wurde eine neue Synagoge in Saporischschja eingeweiht. Die Vermählung meines Onkels war in dieser Synagoge die erste überhaupt. Bei meiner Hochzeit ein paar Wochen früher war sie noch nicht fertig. Es gibt heute immer noch eine kleine Gemeinde dort. Ich selbst bin in der Leipziger Gemeinde nicht sehr aktiv, weil ich meine freie Zeit dem Schreiben widme. Mein älterer Sohn hat Barmizwa gefeiert, mein jüngerer Sohn ist erst neun Jahre alt. Ich kann nur hoffen, dass meine beiden Söhne jüdische Frauen heiraten, was ich nicht beeinflussen kann. Aber ich verheimliche mein Judentum nicht, und ich bin stolz, dass ich Jüdin bin. Man muss nicht religiös sein, damit man das weitergibt: Temperament, Denkweise, Überlebensstrategien.

Wann waren Sie das letzte Mal in Saporischschja?
Vor 22 Jahren.

Sie sind nicht zurückgekommen …
Doch, nach Kiew drei Mal, und ich war auch in Nikolajew. Aber Saporischschja … wissen Sie, Kindheit macht etwas mit einem Menschen. Ich habe es nicht gewagt, mich selbst dort wieder hinzutransportieren. Ich hatte Ängste, dass ich meine ganzen Erfahrungen verliere, die ich seitdem gemacht habe, und wieder dort stehe, so, wie ich Saporischschja verlassen habe, immer noch fast ein Mädchen – mit den Komplexen und den Unsicherheiten, den alten Geschichten aus der Kindheit. Ich bin froh, in Kontakt mit meinen Kommilitonen zu sein, mit den Literaturkollegen, damit sind keine »Knoten« verbunden. Aber nach Saporischschja bin ich nicht zurückgekehrt.

Mit der Schriftstellerin und Übersetzerin sprach Ayala Goldmann.
Svetlana Lavochkina: »Die rote Herzogin«. Übersetzt von Diana Feuerbach. Voland & Quist, Berlin/Dresden 2022, 128 S., 20 €. Die Buchpremiere findet am 19. März in der Moritzbastei in Leipzig statt.

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