Interview

»Wir lassen uns nicht vertreiben«

Die Soziologin Julia Bernstein, Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences Foto: privat

Interview

»Wir lassen uns nicht vertreiben«

Die Antisemitismusforscherin Julia Bernstein über jüdische Antworten auf die Hochschulkrise

von Ayala Goldmann  15.05.2024 09:35 Uhr

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Frau Bernstein, das Netzwerk jüdischer Hochschullehrer wurde vor wenigen Wochen gegründet. Was ist in diesen angespannten Tagen Ihre Hauptaufgabe?
Wir entwickeln Richtlinien für die Unterstützung der jüdischen Studierenden – und wir entwickeln unterschiedliche pädagogische Formate im Bereich jüdisches Leben und Antisemitismus an Universitäten. Gleichzeitig wird man in der letzten Zeit gerade im universitären Bereich mit Informationen überflutet, in Form von unterschiedlichen Diskussionen oder Auseinandersetzungen. Es ist im Moment viel los.

An der Uni Hamburg kam es in der vergangenen Woche zu einem gewalttätigen Zwischenfall nach einer Ringvorlesung von Alfred Bodenheimer, bei dem ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft verletzt wurde. Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, sagte der Jüdischen Allgemeinen, in einem Flugblatt sei er zudem persönlich angegriffen und als »Volksverhetzer« verunglimpft worden. Funktioniert Ihr Netzwerk wie eine Selbsthilfegruppe?
Ja, wir haben regelmäßige Treffen in Safe Spaces, bei denen wir einander unterstützen und darüber sprechen, wo der Schuh drückt und wie wir das in verschiedenen Rollen erleben: als Professoren, als Juden, als Menschen, die Familien und Freunde in Israel haben, und als diejenigen, die die Studierenden unterstützen sollen. An manchen Universitäten ist es momentan noch ruhiger, an anderen ist es eher aufgeladen. Aber an allen Unis ist es so, dass Juden in einer absoluten Minderheit sind.

Wie viele Mitglieder haben Sie?
Circa 130 in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und wir haben auch einen guten externen Kreis von nichtjüdischen Professoren als Unterstützer.

Wie ist in Ihren Reihen das »Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten« zur Räumung des »propalästinensischen« Protestcamps an der Freien Universität (FU) Berlin diskutiert worden?
Ich kann nur für mich sprechen – in meiner Rolle als Antisemitismusforscherin. Ich persönlich frage mich, ob man in diesem Fall für das Recht zum Protest eintreten kann, ohne sich mit den Positionen der Protestierenden gemein zu machen. Das ist eine Entkoppelung vom Inhalt – dazu möchte man sich nämlich nicht äußern, sondern zu dem, was als Einschränkung der Meinungsfreiheit verstanden wird. Das erhält natürlich ein Gewicht vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung. Die Frage ist, ob das auch bei anderen Gruppen funktionieren würde und man für deren Präsenz an der Universität kämpfen würde. Also warum man nicht mit ähnlichen Petitionen für die Sicherheit jüdischer Menschen auf dem Campus eintritt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass auf diese Art und Weise »neue Opfer« geschaffen werden – also die, die für die Freiheit kämpfen, und dahinter verblassen die wirklich Betroffenen in dieser Situation. Nämlich die jüdischen Studierenden auf dem Campus.

Es geht den Unterzeichnern angeblich um Dialog …
Jeglicher Dialog setzt kritisches Hinterfragen und die Auseinandersetzung mit eigenen Positionen und Prämissen voraus. Aber die Slogans, die bei den jüngsten Protestaktionen an den Universitäten gerufen wurden, werden als Appell formuliert und schließen einen Dialog aus.

»From the River to the Sea …«
Aber auch »Stoppt den Genozid«, »Apartheidstaat«, »Zionisten sind Rassisten«. Es geht um die Formulierung einer Verkörperung des Bösen, nicht um eine Diskussionsgrundlage. Diese Narrative beinhalten Vernichtungsfantasien oder Bedrohungsszenarien gegen Juden auf dem Campus und können kaum noch schlimmer werden. Noch schlimmer wird es, wenn sie Handlungen nach sich ziehen und jüdischen Menschen konkret Gefahren drohen.

In Berlin sollen nach der Räumung des Protestcamps an der FU auch Politiker bedroht worden sein. Jüdische Studierende berichten schon länger darüber, dass ihnen auf dem Campus nachgestellt wird und sie für den Krieg zwischen der Hamas und Israel verantwortlich gemacht werden. Welche Erfahrungen machen Sie?
Meinem Eindruck nach haben die meisten Studierenden die Geiseln der Hamas längst vergessen, Plakate mit ihren Fotos wurden zerkratzt – und manche haben schon schnell nach dem 7. Oktober gesagt, dass die Bilder ihnen »die Laune verderben« beziehungsweise »zu traurig stimmen«. Israelische Studierende beklagen, dass ihre Präsenz als Provokation gilt und dass einige boykottiert werden, jüdische Studierende sind der Projektion des Israelhasses ausgesetzt. Aus meiner Sicht müssen wir uns jetzt vor allem die Frage stellen, wie wir aus jüdischen Quellen Ressourcen schöpfen können, wie wir stärker in den innerjüdischen Dialog und in die gegenseitige Unterstützung gehen, um in unserem eigenen Kollektiv und in unseren Quellen, die sich über Jahrhunderte in solchen Situationen bewährt haben, Kraft zu finden, anstatt gegen Windmühlen zu kämpfen.

Wie soll das konkret aussehen?
Es gibt unterschiedliche Instrumente für die Bewältigung antisemitischer Erfahrungen. Aus meiner Sicht heißt das wichtigste Instrument Judentum – und Stärkung jüdischer Identität.

Es gibt nicht wenige Juden, die sich nach dem 7. Oktober 2023 weniger mit Israel, dem Judentum oder jüdischer Religion identifizieren oder damit identifiziert werden wollen. Kennen Sie solche Tendenzen?
Auf jeden Fall. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit der Tradierung von Traumata in verschiedenen Generationen, und auch das ist ein typisches Phänomen. Manche denken, es würde sie retten, ihre jüdische Identität zu verschweigen oder sich als Juden aufzulösen. Das ist aber irreführend, weil diejenigen, die eine stärkere jüdische Identität haben, mit Antisemitismus-bezogenen Krisen und Erfahrungen besser umgehen können als diejenigen, die deutscher als die Deutschen sein wollen, und dann fliegt ihnen dieses Konstrukt beim nächsten Antisemitismusvorfall um die Ohren. Wir haben 2000 Jahre nicht dank anderer Völker und sozialer Netzwerke mit Nichtjuden überlebt, sondern wir haben trotz anderer Völker überlebt. Unsere Kräfte zur Krisenbewältigung sind stark. Wie die Schoa-Überlebende Györgyike Perl sel. A. mir einmal sagte: »Wir Juden sind narbenfähig.« Natürlich gibt es immer wieder Tendenzen zur Assimilation, aber auch die Rückkehr zur Religion war stark ausgeprägt. Ich bin überzeugt, dass Angst, Vermeidung und Distanz zum Judentum uns nicht rettet, sondern die Besinnung auf unsere eigenen Quellen.

Was würden Sie nichtjüdischen Hochschullehrern ans Herz legen?
Es gibt eine Verantwortung für alle Angehörigen der Hochschulen – auch für Juden. Dieser Verantwortung wird man im Moment nicht gerecht. Das derzeitige Klima garantiert weder physisches Wohlbefinden noch die psychische Gesundheit. Wenn sich jemand nicht auf den Campus traut, muss ein rotes Warnlicht aufleuchten. Aber Grundlage jedes Dialogs ist, dass keine Vernichtungsfantasien im Raum stehen – und jüdische Präsenz auf dem Campus als normales friedliches Da-Sein-Können. Erst dann ist ein Gespräch möglich. Das Recht von Juden, an Universitäten zu studieren, ist genauso hart erkämpft wie das Recht auf Protest. Und wir lassen uns nicht von den Hochschulen vertreiben.

Mit der Professorin am Lehrstuhl für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences sprach Ayala Goldmann.

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