Redezeit

»Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt«

Idil Baydar Foto: Henrik Pfeifer

Frau Baydar, Ihre Kunstfigur Jilet Ayse erfüllt alle Sarrazinschen Klischees der integrationsunwilligen Problemausländerin: arbeitslos, ungebildet und dauerkeifend. Wie viel Wahrheit steckt in Jilet Ayse?
Jilet hätte es ohne meine Arbeit als Sozialpädagogin an der sogenannten Rütli-Problemschule in Neukölln nie gegeben. Dort habe ich mir viele Anregungen geholt. Andererseits ist eine Figur wie Jilet natürlich überhaupt nicht repräsentativ für alle türkischstämmigen Deutschen. Insofern ist Jilet auch ein subtiler Schlag ins Gesicht für alle, die denken: »Endlich sagt’s mal einer! Diese Kanacken sind alle wie Ayse in diesem gefälschten Adidas-Anzug!«

Sind Sie eine Comedian, die sich über Migranten lustig macht, oder über Deutsche, die von Migranten ausschließlich in Klischees denken?
Beides. Wenn man mit Jugendlichen wie Jilet arbeitet, erlebt man die abgefahrensten Sachen. Auf Beschimpfungen wie »Du Hässlichkeit!« muss man erst einmal kommen. Das ist schon auch zum Lachen. Aber mir ist es wichtig zu sagen, dass ich diese Jugendlichen nicht bloßstelle, sondern für die Jilet Ayses dieser Welt voller Liebe bin. Und was die Deutschen betrifft: Natürlich mache ich mich über sie und ihre Unbeholfenheit auch ein bisschen lustig.

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Jugendlichen, die Jilet Ayse ähneln?
Von denen erhalte ich durchweg positives Feedback. Sie haben nicht das Gefühl, dass ich mich über sie lustig mache. Vielmehr schreiben sie mir, wie Jilet sie berührt, da sie ihre Lebenswelt spiegelt, die sonst nirgends vorkommt. Für deren Leben interessiert sich ja keiner. Die haben ihre Kanackenrolle zu spielen. Und fertig.

Wie stark identifizieren Sie sich mit Schülern, wie Sie sie an der Rütli-Schule kennengelernt haben?
Sehr. Ich habe ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht. Zwar habe ich ein Waldorf-Internat besucht, habe Abitur und komme aus Celle, nicht aus Neukölln. Wie so viele Muslime musste aber auch ich oft erklären, dass nicht alle Türken ihre Frauen schlagen. Ein anderes Beispiel: Oft sagte man mir, dass ich gut Deutsch spreche für »eine Ausländerin«. Deshalb dachte ich mir: »Ihr wollt eure Kanackin? Hier kriegt ihr eure Kanackin!«

In Ihrem aktuellen Programm streifen Sie auch das muslimisch-jüdische Verhältnis. Wie würden Sie das beschreiben?
Ich finde es schade, dass das Verhältnis nicht besser ist. Juden und Muslime verbindet viel. Angefangen von der Vorliebe der Frauen für schlechten Geschmack, aufgehört bei türkischen und russisch-jüdischen Machos. Zudem machen wir oft dieselben Erfahrungen in Deutschland. Wenn wir uns anstrengen und Erfolg haben, heißt es: Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Migranten ohne Job wird unterstellt, sie seien Schmarotzer.

Der Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland ist laut zahlreichen Studien weit verbreitet. Woran liegt das?
Da spielt Unbildung eine große Rolle. Manche dieser Schüler sehen über Satellitenfernsehen arabische TV-Sender, die oft antisemitische Propaganda ausstrahlen. Ich denke, Austausch ist die Lösung des Problems. Wenn es mehr Foren gäbe, die Treffen von Muslimen und Juden ermöglichen würden, hätten Vorurteile und blinder Hass keine Chance. Es täte unserem Verhältnis sehr gut, wenn wir mehr voneinander wüssten. Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.

Idil Baydar wurde 1975 in Celle geboren. Sie hat als Schauspielerin in unterschiedlichen Produktionen in Berlin mitgespielt, unter anderem im Maxim Gorki Theater. Als Sozialpädagogin arbeitete sie an Brennpunktschulen in Berlin sowie in Jugendprojekten. Als Comedian wurde sie durch ihre Video-Kolumne bei der Bild-Zeitung als Gangsterbraut Jilet Ayse bekannt.

Die Termine ihrer aktuellen Tour finden sich hier:
www.jiletayse.de

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025