Kunst

»Wir haben eine Verantwortung«

Vielleicht erst ein paar persönliche Worte: Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich physisch und emotional so nah am Krieg. Mitte Februar war ich bei meiner Familie in Israel. Wir kommen alle aus der Ukraine, aus Tschernobyl, mein Vater war einer der Liquidatoren nach dem Unfall 1986 im Atomkraftwerk. Noch heute haben wir viele Verwandte und Freunde in der Ukraine. Von der Nachricht des Angriffs waren wir alle tief schockiert. Wir waren sprachlos. Die ersten Tage waren besonders schlimm, denn ich konnte nicht helfen, nichts tun. Zurück in Berlin, habe ich sofort angefangen, praktisch zu helfen.

Und dann künstlerisch: Beim Solidaritätskonzert im Jüdischen Museum habe ich zum ersten Mal gefühlt, wie wichtig das ist, was ich beruflich mache. Ich hatte zwar auch ein paar Wochen vorher schon einen Auftritt, der hatte aber nichts mit den aktuellen Ereignissen zu tun. Mir fällt es ein bisschen schwer, jetzt Konzerte ausschließlich mit Liebesliedern oder alten traditionellen Liedern zu geben, weil ich mich als Künstlerin anders äußern möchte.

gefühl Deswegen haben wir im Jüdischen Museum Lieder über Protest, über Frieden, über Krieg gesungen. Das hat ein anderes Gefühl geweckt. So ein Gefühl wie bei diesem Konzert hatte ich noch nie. Und ich stehe, seit ich sieben Jahre alt bin, auf der Bühne. Dieses Mal war es eine ganz andere Ebene. Ich habe die Kraft der Musik gespürt. Musik kann ein Gewehr in den Händen sein. Als Künstlerinnen und Künstler waren wir auf der Bühne wie ein Körper. Und haben unsere Gefühle auf die Menschen im Publikum übertragen: Sie haben geweint, sie waren wütend, haben Hoffnung gespürt. Jedes einzelne unserer Lieder hat Hoffnung vermitteln wollen.

»Musik kann ein Gewehr in den Händen sein.«

Svetlana Kundish

Ich spreche wohl für alle, wenn ich sage: So haben wir noch nie Musik gemacht. Es ging nicht um schöne Klänge, es ging um die Botschaft. Ich habe mit Kraft gesungen – und das ist eine andere Ebene des Musizierens. Wir Musiker, die wir auf der Bühne standen, haben deutsche, ukrainische, lettische, moldawische und amerikanische Wurzeln. Dass wir zusammen auftreten, ist ein Symbol.

bereicherung Unsere Flötistin kommt aus Charkiw, der Stadt, die so schrecklich bombardiert wurde. Sie war so eine künstlerische und menschliche Bereicherung für unsere Gruppe: Ihren Tränen ließ sie freien Lauf. Wir sind Freunde und kennen uns schon viele Jahre. Und das war wichtig, denn nur so konnten wir gemeinsam so intensiv spielen. Wir hatten nur eine kurze Vorbereitungszeit, und das Programm haben wir innerhalb von vier Stunden zusammengestellt. Es war mein erster Tag aus der Quarantäne heraus. Wir haben als Gruppe unsere Gefühle der vergangenen Wochen in die Musik gepackt.

Manchmal hilft es zu schreien – auch uns Künstlerinnen und Künstlern. Wir müssen nicht nur jetzt unsere Stimme erheben, nicht nur jetzt präsent sein. Wir müssen immer präsent sein, denn auch wir haben Einfluss auf die Menschen. Wir tragen nicht nur einfach Lieder vor, wir erzählen dazu, und das hören die Menschen im Publikum. Und gerade jetzt hat das Singen, das Erzählen zur Musik eine ganz neue Ebene und Wichtigkeit erreicht. Wir haben eine andere Verantwortung. Und vergessen wir nicht: Mit die Ersten, die – auch in Russland – gegen den Krieg ihre Stimme erhoben haben, waren Künstler. Seien wir also präsent!

Svetlana Kundish, Gesang


1939 floh meine Mutter mit einem Kindertransport aus dem von Nazis besetzen Wien und wurde bis zum Ende des Krieges von einer Familie in England adoptiert. Sie war 13 Jahre alt. Ihr großer Bruder wurde auf die Isle of Man gebracht, wo die erwachsenen Geflüchteten Schulen für die Kinder gründeten. Nach dem Krieg sprach meine Mutter ausreichend Englisch und war gebildet genug, um an der London School of Economics aufgenommen zu werden. Ihr Bruder ging direkt nach Boston, wo er am MIT aufgenommen wurde. Später wurde er dort Professor.

Ohne die Menschen, die sich um sie gekümmert hätten, wäre nichts davon passiert. Und deswegen habe ich gar keine andere Wahl, als eine solche Fürsorge auf jede nur erdenkliche Weise zurückzugeben. Als jüdische Künstler haben wir alle eine Verbindung zur ukrainischen Kultur. Wir kennen die Melodien, arbeiten mit anderen Klezmer-Musikern aus der Ukraine zusammen, haben dort eine Familiengeschichte.

widmung Die Familie meines Vaters stammt aus Kiew. Eine Widmung an mein Leben in Berlin und an mein ukrainisches Erbe ist mein Nachname Brody, eine Stadt, die für ihre jüdische Kultur bekannt war. Joseph Roth ist aus Brody! Ich habe das Album Hinter allen Worten produziert, das auf den Liedern von Rose Ausländer basiert. Wir haben die Songs mit Clueso, Meret Becker und Jelena Kuljic aufgenommen. Rose Ausländer stammt ursprünglich aus Czernowitz, auch Paul Celan. Einen Teil unseres Programms haben wir sogar im Staatstheater Czernowitz aufgeführt!

»Jede Bombe, die in der Ukraine explodiert, zerstört ein Stück meiner Familie und meines künstlerischen Erbes.«

Paul Brody

Jede Bombe, die in der Ukraine explodiert, zerstört ein Stück meiner Familie und meines künstlerischen Erbes. Ich weiß nicht, wie ich erklären kann, wie sich das anfühlt, denn das muss ich gerade selbst jeden Tag neu herausfinden. Wochenlang habe ich Putin verflucht. Dann entschied ich, dass Helfen besser ist, als sich zu beschweren.

hilfe Ich nahm an einem Benefizkonzert teil. Das Konzert wurde wegen Corona abgesagt. Dann schrieb ich an die anderen Musiker, um zu fragen, ob jemand helfen könnte. Auf dem Weg nach Berlin seien zwei Frauen, zwei Töchter und zwei Katzen, sagte Sveta Kundish, die bereits sehr ins Helfen verwickelt war. Zwei Tage später standen meine Freundin und ich auf dem Bahnsteig im Berliner Hauptbahnhof. Wir sind jetzt also eine große WG! Wir haben auch mehr Wohnungen für Menschen gefunden, Spenden gesammelt, Menschen zum Impfzentrum begleitet, den Kindern geholfen, sich in der Schule anzumelden. Hilfe wird auf vielen Ebenen benötigt! In diesem Fall ist jeder ein Künstler!

Ja, wir alle müssen ein Zeichen der Zusammengehörigkeit setzen! Wir hoffen, dass der Krieg endet. Aber wenn nicht, hoffen wir, es unseren Gästen zu Hause in jeder Hinsicht möglich zu machen! Wir spielen ukrainische Lieder, schrei­ben neue Lieder über unsere Erfahrungen und helfen, die Flüchtlinge zu trösten, wo immer wir können. Wir geben ein Benefizkonzert, um Geld für Bedürftige zu sammeln. Ja, wir haben eine besondere Verantwortung. All diese Wege drücken unseren Wunsch nach Menschlichkeit aus.

Paul Brody, Trompeter


Da ich aus der ehemals sowjetischen Republik Moldau stamme und meine Muttersprache Russisch ist, geht der Konflikt nicht an mir vorbei. Putins Politik zielt darauf, sein Territorium zu erweitern und starken Einfluss in Osteuropa auszuüben, was einer Einschränkung oder gar Abschaffung der Souveränität von osteuropäischen Ländern, wie in diesem Fall der Ukraine, dienen soll. Moldawien wäre dann wahrscheinlich das nächste Land in Putins Plan, das der Besatzung zum Opfer fallen soll (wobei Moldawien durch Transnistrien ja geteilt ist und sich eine Hälfte des Landes tatsächlich eher zu Russland zugehörig fühlt, was in der Ukraine alles wesentlich komplizierter ist).

Ich sehe generell nur wenig Chancen in einem »Zurück« (in allen Lebensbereichen), Rückentwicklungen führen zu dogmatischem Denken, also einem Ausschluss von allem Lebendigen und der Möglichkeit einer anderen Zukunft als der zum Beispiel politisch vorgeschriebenen. Unabhängigkeit im global überwiegend vorherrschenden Kapitalismus ist eine komplexe Sache, aber Selbstbestimmung kann eben immer nur aus Unabhängigkeit resultieren. Ein Staat, der unabhängig sein will, hat ein Recht darauf, und die Sowjetunion gibt es nun mal seit 30 Jahren nicht mehr. Bei allen »Konflikten«, die die Russen mit den Ukrainern oder andersherum haben, hat Putin in der Ukraine nichts verloren.

pluralität Ich bin freischaffende Schauspielerin, Autorin, Musikerin und habe vor einigen Jahren die bewusste Entscheidung getroffen, selbstständig zu arbeiten, weil ich mein künstlerisches Denken befreien wollte, und dadurch handlungsfähiger werden wollte – unabhängig eben. Man ist nie vollständig autonom, weil das menschliche Zusammenleben aus Pluralität und Interagieren besteht, in demokratischen Verhältnissen sowieso, aber was »Besatzung« im Kopf bedeutet, weiß ich einfach aus meiner familiären Vergangenheit, die sowjetisch geprägt ist, sowie auch aus Arbeitsverhältnissen am Theater.

Unabhängigkeit ist eine Lebensphilosophie, und Putin ist kein Denker, er ist ein Tyrann. Wer nicht denken kann, der ist nicht frei und kann weder jemanden »befreien« noch frei sein lassen. Was ich im Moment als Herausforderung erlebe, die für mich tatsächlich neu ist, ist, dass ich Künstlern begegne, die die russische Sprache nicht mehr sprechen wollen. Diese Entscheidung respektiere und akzeptiere ich, aber ich selbst denke, dass man Sprachen (egal welche) nicht diskriminieren sollte. Sprache ist objektiv betrachtet Transportmittel für Inhalt (subjektiv ist sie für jeden etwas anderes).

Dass ich Russisch spreche, bedeutet nicht, dass ich Putins Ideologien transportiere, sonst dürfte auf der Welt seit Hitler kein Deutsch mehr gesprochen und auch kein Paul Celan mehr gelesen werden dürfen (der hat ja bekanntlich auf Deutsch geschrieben). Ich trete gemeinsam mit Menschen auf, mit denen ich künstlerisch auf einer Ebene bin, mit denen ich Inhalte verhandle, deren Stil ich mag, die ich ähnlich mir gegenüber oder auch völlig unterschiedlich zu mir selbst empfinde.

widersprüche Je nachdem, worum es geht, versuche ich, mit anderen Künstlern eine gemeinsame künstlerische Sprache zu finden. Konflikte, Widersprüche, Pluralitäten jeglicher Art, Diversität ist das Spannende, nicht sich aneinander heran kuscheln und »entertainen«. Wenn jemand politische Ansichten vertritt, die ich überhaupt nicht gutheiße, kann ich mit demjenigen nur bis zu einer bestimmten Grenze zusammenarbeiten.

Was allerdings Theater angeht, so ist die Unterschiedlichkeit von Menschen ja genau das, worum es im Theater geht, unsere Welt komplett abzubilden mit all ihren Ecken, Kanten, Unfällen, dem Scheitern, dem wir alle ausgesetzt sind, den höllischen Konflikten, unserer Dummheit und auch allen Gegensätzen dieser Begriffe. Das menschliche Leben und Zusammenleben ist komplex, und in der Kunst, egal ob in der Dramatik, in der Musik oder beim Schreiben, geht es ums Abbilden der Komplexität auf unterschiedliche Art und Weise.

Der Mensch will doch Kunst, weil er sich selbst verstehen will.

Marina Frenk

Der Mensch will doch Kunst, weil er sich selbst verstehen will. Wenn ein Künstler oder eine Künstlerin mit mir nur noch auf Ukrainisch sprechen will, ist das okay, ich kann auf Deutsch, Englisch oder Russisch antworten. Und was ich nicht verstanden habe, frage ich einfach nochmal nach. Verständnis und »einander Verstehen« muss man wollen, Verstehen ist aktiv. Ich erhoffe mir, dass so wenig wie möglich Ukrainer und Ukrainerinnen in diesem grausamen Krieg sterben.

Ebenso wünsche ich mir, dass alle Russen, die halb bewusst oder gezwungenermaßen als Soldaten in den Krieg ziehen (und damit meine ich eben nicht die, die bewusst und überzeugt in den Krieg ziehen), diesen Krieg überleben. Ich wünsche mir, dass die Ukraine unabhängig bleibt, und dass Putin und seine Anhänger ihren Größenwahn stoppen und aufhören, in veralteten Dimensionen zu denken, die in keine Zukunft führen (wir sehen ja gerade die Zukunft, die Putin sich vorstellt – sie besteht aus Mord und Tod). Am meisten wünsche ich mir, dass so wenige Kinder wie möglich sterben.

Marina Frenk, Sängerin und Gitarristin


Krisen sind eine Chance für die Erfahrung und Pflege von mehr Zusammenhalt; bei dem Konzert im Jüdischen Museum Berlin konnte ich dazu beitragen und auch ein gutes Gefühl mit nach Hause nehmen.

Natürlich ist es gerade jetzt wünschenswert, wenn Russen und Ukrainer aufeinander zugehen und gemeinsame Aktivitäten entfalten. Ich als Deutscher kann so etwas jedoch nicht empfehlen – Besserwisserei –, sondern nur begrüßen und fördern, wenn es geschieht, und es geschieht ja auf vielfältige Weise in meinem Umfeld. Dass die Fenster der von Ukrainern und Russen gemeinsam besuchten orthodoxen Kirche in Charlottenburg eingeschlagen wurden, ist ein bitteres Symptom für mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt. So etwas ist nur Wasser auf die primitive Propaganda in vielen Medien.

»Was in Deutschland geschieht, wird in der Welt deutlich wahrgenommen. Hierin liegt auch eine wunderbare Chance.«

Martin Lillich

Was in Deutschland geschieht, wird in der Welt deutlich wahrgenommen. Hierin liegt auch eine wunderbare Chance, nämlich diese: sich beispielhaft anderen Gruppen und Menschen zuzuwenden und immer neue Brücken zu bauen. Ich bin dankbar dafür, immer wieder mit Künstlern aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen zusammenarbeiten zu können. Erhalten wir uns so den Frieden!

Martin Lillich, Bassist

Zusammengestellt von Katrin Richter

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