Literatur

Wiener Walzer rechtsherum

Feine Gesellschaft: Wiener Opernball Foto: dpa

Vieles, das uns aus unserem beliebten Urlaubsland Österreich zwischen zwei Buchdeckel gebunden erreicht, trägt den offenen Ton des Vorwurfs und der Anklage: das Klima, das die Unbelehrbaren erzeugen, das Nazigift, das unausrottbar erscheint und sich in Pöbeleien quer durch die Gesellschaft fortsetzt, schließlich jener dumpfe Austro-Antisemitismus, der noch immer seinen festen Bodensatz hat. Autoren wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek, die sich entschieden und originell mit diesem Problem auseinandersetzten, haben da den Hass vieler Landsleute auf sich gezogen.

schlüsselroman Der Schriftsteller Robert Schindel, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde, wurde wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner frühen Sympathie für die Kommunisten ähnlich angefeindet. Als vor 21 Jahren sein Roman-Debüt Gebürtig erschien, erkannten viele allerdings, dass es sich bei diesem Werk trotz seiner Kompositionsschwierigkeiten, trotz seiner mitunter vertrackten Erzähltechnik um große Prosa handelte. Robert Schindel, der zunächst als Lyriker hervorgetreten war, befasste sich in Gebürtig mit dem Trauma derer, die als Kinder der Nazis und ihrer Opfer in mittleren Jahren den Versuch unternehmen, mit dem fertig zu werden, was ihre Eltern angerichtet oder erlitten haben.

Der Kalte, der neue Roman des 68-jährigen Autors, führt diese Thematik weiter in die Ära der Waldheim-Jahre, als der Skandal um das Verschweigen seiner Nazi-Vergangenheit den damaligen Bundespräsidenten und ehemaligen UNO-Generalsekretär um Amt und Reputation brachte. Schindel hat indes die Namen der Akteure geändert. Kurt Waldheim wird zu Johann Wais, Bundeskanzler Sinowatz zu Marits, Claus Peymann, damals Chef des Burgtheaters, zu Schönn und Thomas Bernhard zu Muthesius. Aber diese Schlüsselroman-Technik, bei der sich auch die verschiedenen Handlungsstränge zum Teil verschieben, ist nur vordergründig von Belang.

Kontrapunktisch hat Schindel die Figur des unter Stalinismus-Verdacht stehenden Bildhauers Krieglach gesetzt, der gemeinsam mit dem Wiener Bürgermeister Purr einen prominenten Standort für ein Antifaschismusdenkmal erkämpfen will. Unschwer lassen sich hinter beiden Erzählfiguren Alfred Hrdlicka und Helmut Zilk erkennen. Wenn dann am Ende im Burgtheater das Stück Vom Balkon uraufgeführt wird und im Parkett Schlägereien und Tumulte ausbrechen, hat der Wiener Kulturkampf nach Bernhards Heldenplatz-Vorbild seinen Höhepunkt erreicht.

konfrontation Die eigentliche Hauptfigur im Zentrum der weit ausgeführten Handlung ist aber Der Kalte, der Spanienkämpfer und Auschwitz-Überlebende Edmund Fraul, der scheinbar gefühllos durchs Leben geht, mit seiner Frau Rosa in traumatischen Erinnerungen an die Lagerzeit festhängt: »Sie war und blieb eine unpolitische Jüdin, die unverschuldet zu ihrem Schicksal gekommen war, indes er doch als Kämpfer gegen das Unrecht selbstverständlich sein Schicksal auch herausgefordert hatte.«

Der in seiner emotionalen Kälte auch gegenüber dem einzigen Sohn verharrende Edmund Fraul befreit sich erst aus dieser »Herztaubheit«, als er den ehemaligen KZ-Aufseher Wilhelm Rosinger trifft, der sieben Kinder im Lager mit einer Phenolspritze ermordet hat. Plötzlich geraten Opfer und Täter auf eine gleiche Ebene, erzählen sich gegenseitig von ihren extremen Erfahrungen im Lager und von ihren fortwährenden Albträumen.

Schindel gelingt hier etwas, das in der Schoa-Literatur höchst ungewöhnlich ist: Er nimmt in dieser Konstellation keine einseitige Position ein, es gibt kein Verdammen, aber auch kein Verzeihen, keine Relativierung des Geschehenen. Rosinger wird gegen Ende vor seiner Haustür überfahren. Fraul nimmt im Hintergrund beobachtend an seiner Beisetzung teil, hält sich aber von den Trauergästen fern, unter denen sich stadtbekannte Altnazis befinden. Nachdem später auch Rosa und Edmund Fraul gestorben sind, kann der Leser mit leichtem Erstaunen konstatieren: Eigentlich hat sich nicht viel geändert. Opfer und Täter liegen auf dem Friedhof, die Nachgeborenen begegnen einander in der Gaststätte oder in der Bohème.

Ähnlich wie Gebürtig ist auch dieser Roman symmetrisch angelegt, die Lebensläufe der verschiedenen Figuren werden in erzählerischer Gegenbewegung zusammengeführt. Die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, sie drängt sich immer wieder mit Macht in den Vordergrund. Robert Schindel gibt hier den Autor als Beobachter einer Epoche, in der sich Österreich erstmals mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Damals wurde in einem schmerzhaften Prozess für jedermann erkennbar auch mit der Mär von der eigenen Opferrolle aufgeräumt. Die Vielfalt der uns in diesem zweiten großen Roman von Robert Schindel begegnenden Perspektiven ist außerordentlich, gestützt auf ein erzählerisches Potenzial, dessen Einfallsreichtum seinesgleichen sucht.

Robert Schindel: »Der Kalte«. Suhrkamp, Berlin 2013, 660 S., 24,95 €

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