Scheherazade

Wie ein wilder Stier

Erhebt sein »Broken German« zum Stilprinzip: der israelische Schriftsteller Tomer Gardi Foto: Shiraz Grinbaum

Beim Bachmann-Wettbewerb 2016 galt Tomer Gardis Auftritt als »ästhetische Tellermine«, weil das gebrochene Deutsch seines Berliner-Migranten-Romans Broken German alle herkömmlichen literarischen Bewertungsmaßstäbe jauchzend zertanzte.

Kibbuz Syntax, Deklination, Pluralbildung, die gefürchteten deutschen Artikel setzte der Israeli, der im Kibbuz Dan in Galiläa aufgewachsen ist, neu zusammen, so wie sich die Identitäten seiner Figuren im neuen Land neu zusammenfügen müssen.

Gardis Scheherazade ist passenderweise ein arbeitsloser Schriftsteller.

Ein Skandal. Der zwischen Berlin und Tel Aviv pendelnde Gardi kann sich rühmen, als erster Autor in der Geschichte des Bachmann-Wettbewerbs eingeladen worden zu sein, ohne die hochdeutsche Schriftsprache zu beherrschen. Er hat endlich mal wieder Spannung in die Veranstaltung gebracht, aber auch die Latte für den Nachfolgeroman ziemlich hoch gelegt.

Klassiker Doch hoppla: Die neue Geschichte hopst locker darüber. Gardis drittes Buch ist 160 Seiten schmal, und der 45-Jährige verhandelt diesmal nichts Geringeres als das Erzählen an sich. Deshalb fängt Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück auch gleich mit dem arabischen Klassiker des Erzählens an: Tausendundeine Nacht.

Gardis Scheherazade ist passenderweise ein arbeitsloser Schriftsteller, der im Arbeitsamt Tel Aviv auf seinen Stempel für die Unterstützung wartet. Den blutrünstigen König gibt der Beamte mit besagtem Stempel. Von dieser Szene stößt sich Gardis völlig losgelöste Imagination ab, um sich in ungeahnte Höhen zu schrauben, wo eine Metapher die nächste jagt.

Fiktion Die unbestrittene Kunst des Autors ist es – während er über alle Erzählmuster von vorher oder nachher, männlich oder weiblich, Fiktion oder Realität, Kaffee oder Tee fröhlich hinwegflattert –, aus dem vermeintlich überwältigenden Chaos doch eine Geschichte mit Anfang und Ende zu gebären. Von den starken Bildern – ob fischiger Dschinn aus der Sektflasche, leidender Eukalyptusbaum, Gefängniszelle oder Stierkampfarena – können die multiplen Erzähler und Zuhörer nicht genug kriegen. Aber am stärksten bleibt wohl Gardis aberwitzige Erfindung des israelischen Stierkampfes hängen.

Fein ausgedichtet mit Stieraufzuchtstationen im Golan, Riesenarena in Modiin und brutalstmöglicher Auserzählung der tierischen Tortur. Man ist versucht, im wilden Stier die Macht und Ohnmacht des Erzählers selbst zu suchen, der der Willkür seines Publikums restlos ausgeliefert ist, so wie Scheherazade dem König, wie der arbeitslose Schriftsteller dem Beamten mit Stempel.

Am stärksten ist Gardis aberwitzige Erfindung des israelischen Stierkampfes.

Cliffhanger Während die frei kreiselnden Figuren, die letztlich doch wie durch Drehtüren miteinander verbunden sind, ihrer Wege gehen oder wegen des lebensrettenden Tausendundeine-Nacht-Cliffhangers eben warten müssen, wird glasklar, dass der Autor nicht irre tanzend mal wieder die Kreuzung blockiert, sondern jedes Wort mit absoluter Zielsicherheit in die Geschichte setzt, dass alles Ort, Zeit und Namen hat.

Aber es ist eben der Autor, der die Kombination der Koordinaten bestimmt. Großbritanniens Vorzeigeliterat Martin Amis hat einmal gesagt, ein Autor müsse dem Leser mit seinem Schreiben den angenehmsten Sessel bereiten, direkt beim Kamin. Gardi legt eine Distel in die Kissen. Was für ein Leseglück!

Tomer Gardi: »Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück«. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Droschl, Graz 2019, 160 S., 20 €

Washington D.C.

Trump sorgt mit Angriffen auf ermordeten Rob Reiner für Empörung

Der jüdische Regisseur sei an einem »Trump-Verblendungssyndrom« gestorben, schreibt der Präsident. Dafür erntet er seltene Kritik aus den eigenen Reihen

 16.12.2025

Nachruf

Filmproduzent mit Werten

Respektvoll, geduldig, präzise: eine Würdigung des sechsfachen Oscar-Preisträgers Arthur Cohn

von Pierre Rothschild  15.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025

Los Angeles

Bestürzung über Tod von Rob Reiner und Ehefrau Michele

Der jüdische Regisseur und seine Frau wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei behandelt den Fall als mögliches Tötungsdelikt

 15.12.2025

Justiz

Gericht: Melanie Müller zeigte mehrmals den Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was im Berufungsverfahren zur Debatte steht

von André Jahnke  14.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  14.12.2025

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

von Christiane Oelrich  12.12.2025

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025