Tel Aviv

Wie alles begann

Foto: colourbox

Es lag ein geheimer Zauber in dem Wort »Tel Aviv«. Auch die Schwerkraftgesetze waren völlig andere. In Tel Aviv hatten die Leute einen anderen Gang: Sie hüpften und schwebten, wie Neil Armstrong auf dem Mond. Die ganze Stadt war ein einziger Grashüpfer. Nicht einfach ein Ort, zu dem du dir einen Fahrschein löst, sondern ein anderer Kontinent. (Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis)

Ein halbes Dutzend fahrbarer Gestelle mit ausklappbarer Deckplatte wird in die Check-in-Halle hereingerollt. Wie bei einer OP, denkt der Betrachter, doch an der Unterseite der Platten klebt, halb abgerissen, das EL-AL-Logo. Junge Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaft drehen, als hätten sie es mit einem mechanischen Tanzpartner zu tun, die Chromständer auf ihren Sockelrändern in die Mitte des Raumes und spannen blaue, dehnbare Bänder auf. Zwei separierte Zonen: die davor, die dahinter. Fluggäste nach Woandershin, Fluggäste nach Tel Aviv.

Ist es Delirium, oder formen die Lippen der anderen Passagiere beim Weiterhasten zu ihren jeweiligen Counters tatsächlich ein »’s ist wegen der Juden«? Die Blicke sind gleichmütig, ein wenig neugierig auch, keineswegs hasserfüllt.

H&M-Tüten Denn die Hipster-Schluffis, die innerhalb des Band-Spaliers warten, könnten ja auch Spanier sein oder Italiener, mit ihren Sonnenbrillen und Röhrenhosen, Rucksäcke auf schiefen Schultern oder Rollkoffer hinter sich herziehend, H&M-Tüten unterm Arm. (Manchmal, du erinnerst dich, betreiben sie, um peinigenden politischen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, die Mimikry sogar bewusst und antworten in Kreuzberger Bars auf die Frage nach dem Woher mit einem »I’m from Spai..in«, darauf hoffend, dass ihr israelischer Akzent keinem auffällt. Mitunter siehst du sie danach an ähnlichen Orten in Tel Aviv wieder, auf Hebräisch von Berlin schwärmend, doch nun ohne jeden Zwang zur Verstellung.)

Als du das erste Mal nach Tel Aviv geflogen bist, in jenem Nachkriegssommer 1991, waren die Hipster neben dir noch wirkliche Kids – aber du fühlst dich doch jetzt nicht wirklich alt, oder? Warte nur, balde …

Damals, vor jenem Abflug in Stuttgart, warst du hinter einen Vorhang gewinkt worden, dort ein Tisch mit deinem geöffneten Koffer und dahinter eine junge Frau, die Irit hieß und dich auf Deutsch befragte, dabei mit ihrem Akzent manche Vokale ebenso charmant verdoppelnd. »Aber du hast doch eben gesa..agt …« Und hattest dich, nur zwei Jahre nach deiner Ausreise aus der verhassten DDR, dennoch keine Nanosekunde lang an den Osten erinnert, da du doch wusstest, weshalb dir diese Fragen gestellt werden: für dein Menschenrecht, nicht in der Luft zusammen mit einer Kofferbombe zu explodieren.

Nur die Routine solcher Befragung hattest du, dank des Lächeln dieser Irit mit dem dunkelblonden Curly-Haar, gewiss ein wenig überschätzt: Dachtest womöglich, sie wäre tatsächlich nur an dir interessiert, den Stationen deiner allerersten Israel-Reise, dem zuvor von dir per Brief gebuchten Hostel draußen in Yafo.
(Glaubtest später dann dort – zwischen dem pittoresken Flohmarkt und den von Sonne gesprenkelten Saftläden und Kebabständen – ja auch immer, es gelte wortwörtlich deinem willkommenen Hiersein, wenn permanent jenes »you are welcome« zu hören war.)

»Warum lachst du?«
»Weil ich mich gerade an meine erste Israel-Reise erinnere …«
»Dann warst du schon mal da?«
»Ja, im Sommer ’91, ein paar Monate nach Saddam Husseins Raketenangriffen auf Tel Aviv.«
»Wow – und jetzt?«

Pilger Und jetzt stehst du also schon wieder mal vor einem jener Drehständer, dein Ausweis samt E-Ticket auf der aufgeklappten Deckplatte. Du weißt, dass es jetzt etwas länger dauern wird als bei der Befragung der reichlich verpeilt wirkenden israelischen Berlin-Fans, etwas länger auch als bei der Passüberprüfung dieser Gruppe deutscher Pilger, die das Heilige Land besuchen wollen und bereits ihre Polyglott-Reiseführer aus dem Taschenlabyrinth ihrer Kurzhosen pulen.

Kürzer allerdings (und das ist dein Security-Check) als die Befragung jener knapp 40-jährigen Deutschen im beigen Leinenkleid und mit kurz geschnittenem Haar, mit etwas verhärmtem Gesicht und Silberschmuck an den Handgelenken.

Frauen mit Doppelnamen (spekulierst du nicht ganz grundlos), geschieden und liebesbedürftig und deshalb wie gemacht für die großen dunklen Männeraugen und süßen Flötentöne in den dämmrigen arabischen Altstadtgassen von Jerusalem, für Hostels, in denen man sie – who knows – unter Umständen auch um eine kleine Gefälligkeit bitten könnte, einen winzigen Transport, ein zu überbringendes Geschenk, eine Information. In der Tat: Solche Thriller-Geschichten hatte es gegeben, wieder und wieder.

»Ist das deine Freundin da drüben?« (Nichts entgeht der Security.)
»Nein. Hab nur eine Wette abgeschlossen, wer länger ausgequetscht wird – sie oder ich.«

Unerfahrenheit Du hast Glück, denn deine Befragerin ist – ganz wie einst Irit – noch zu jung, um vom täglichen Schnellerkennungs-Trott bereits frustriert zu sein, und gleichzeitig erfahren genug, um gefühlte Unerfahrenheit und rudimentäres Deutsch/Englisch nicht durch ärgerliche Wurstigkeit kompensieren zu müssen. (Denn natürlich hatte es auch das gegeben, Kunststück bei deinen bislang 25 Reisen: »Du bist also angeblich Schriftsteller. Und wo sind dann deine Bücher?« »Hey, soll ich etwa im Flugzeug meine eigenen Bücher lesen?« »Warum nicht?« ...)

Dennoch wirst du auch dieses Mal schließlich doch weitergereicht, bekommst einen farbigen Sticker auf die Rückseite des Reisepasses, packst Ticket und Notizbuch ein – und denkbar unsentimental der Abschied vom wider Erwarten auskunftsfreudigen Kugelkopf, der hinter einem anderen Drehständer nun bereits neue Passagiere in die Mangel nimmt, ein etwas überfordert wirkendes Ehepaar aus Sachsen (Observieren steckt an).

Immerhin kannst du nun zum Check-in gehen, wo die übermüdeten Hipster herumlungern, die genervte deutsche Angestellte um Fensterplätze anbetteln, um besser schlafen zu können. Die Dame aber spricht: »Sorry-slicha, no sleep at noon!« Keine Frage, auch sie hat ihren EL-AL-Job gelernt. Und gibt schließlich dir einen Fensterplatz, denn natürlich willst du um 16 Uhr den Moment sehen, wenn …

Aber sogar diese Vorfreude hebst du dir noch etwas auf. Weil doch ohnehin nicht alles Gegenwart ist an diesem späten Vormittag. Da du doch nur die älteren Israelis ansprechen müsstest, um Jahrhundertgeschichten zu hören: Töchter und Söhne einst aus Deutschland vertriebener Juden, Nachkommen von Schoa-Überlebenden und Displaced Persons, die nun zwischen Schöneberg und Rosenthaler Platz auf Spurensuche gehen oder ihre Kinder besuchen, Teil jener ungefähr 20.000-köpfigen Community junger Israelis in Berlin.

Yallah-Bye Abschiedsszenen vor dem Spalier des aufgespannten Bandes, Lachen, Umarmungen, mitunter auch ein paar Tränen und dazu ein Sprachgemisch, das nicht babylonisch ist, sondern eine Art Heimat markiert. Also dann, meine Lieben, Alles Gute, take care, Masel Tow, Yallah-Bye. Manchmal auch, bei den in Deutschland und Tel Aviv lebenden russischen Juden, ein Doswidanja.

Und dann, nach vier Stunden Flug, wobei man schon 45 Minuten vor der Landung, um die dickköpfige Quirligkeit der Passagiere wissend, die Anschnallzeichen angeschaltet hat, schließlich dies: Der Flieger hoch über der Scheidelinie zwischen Meer und Land, weißer Gischt und Strand und Hochhäusern. Kurz darauf, schon jetzt tiefer, dreht er eine Schleife über kahlhügeligem Palästinenserland, dann in Sekunden zurück nach Israel, geräuschvoll das Fahrwerk ausfahrend, Flugzeugschatten über grünen Hainen und hellbraunen Feldern, schließlich das Rollfeld.

Das Beifallklatschen der Passagiere, als wären sie gerade einer Katastrophe entkommen – was in ihren Familienerinnerungen ja tatsächlich so ist –, die Shalom-Alechem-Klänge aus dem Bordlautsprecher, die nun auch dir Tränen der Rührung in die Augen treiben, dazu diese Stimme, Stewardessen-Information und gleichzeitig wahr gewordener Traum, Tausende Jahre alt.

»Willkommen in Israel. Wir sind soeben auf dem Airport Ben-Gurion gelandet.« Noch längst hat der Flieger nicht die endgültige Parkposition erreicht, da scheinen schon alle auf den Beinen, springen auf, machen sich an den Gepäckfächern mit den mitgebrachten Geschenken und H&M-Tüten zu schaffen, die vom Flug für zu Hause aufgehobenen Hummus-Plastikschälchen kullern über den Boden oder platzen, das gibt Lachen und manchmal auch Ärger – »Moti – Idiot, sieh dir jetzt mal meine Jeans an!« –, während du dich noch einmal in deine Erinnerung vom Juli 1991 versenkst.

Melodie Damals war es bereits nach Mitternacht gewesen, der Gurion-Airport inmitten von orangem Lichtgefunkel noch ein altes 60er-Jahre-Ungetüm, während aus dem Lautsprecher der Arkia-Maschine »Hallelujah« klang. Und laut, ganz laut – deine nordöstliche Schüchternheit plötzlich weit, weit weg – sangst du mit, denn hatte dich an einem längst vergangenen Kindheitsabend im Sommer 1979 nicht deine Mama mit ebendiesen Worten noch einmal aus dem Bett geholt?

Komm schnell noch mal rüber ins Wohnzimmer, Israel hat den Grand Prix gewonnen (Diese frühe Zuneigung, ein weiteres Antidot zu den Anmaßungen der DDR). Die schöne, eingängige Melodie im Westfernsehen, danach wieder und wieder gehört auf Bayern 3 oder RIAS Berlin, sogar die Worte kanntest du ja noch auswendig: Hallelujah, babolam …

Und so begann es. Geht es weiter, könnte es – ginge es nach dir – weitergehen auf ewig.

Der Text ist ein Auszug aus Marko Martins neuem Buch »Tel Aviv: Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt«. Corso, Wiesbaden 2016, 192 S., 28 €

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