»Herr Klee und Herr Feld«

Westend-Blues

Das aufpolierte und glänzende Frankfurt von heute lässt wenig Raum für Träume. Foto: Thinkstock

Alfred Kleefeld haben wir in Michel Bergmanns erstem Roman Die Teilacher kennengelernt. Da war er 33 Jahre alt, man schrieb das Jahr 1972, und er räumte das Zimmer seines gerade verstorbenen »Onkel David« im Jüdischen Altenheim aus. Alfred ist der rote Faden in Bergmanns Romanen über die Frankfurter Juden seit dem Ende der Schoa, von denen Herr Klee und Herr Feld, der bisher letzte, jetzt erschienen ist.

bruderkrieg Die farbigen, turbulenten Geschichten über Max Holzmanns Wäschegeschäft und seine Handelsvertreter, die »Teilacher« Krautberg, Verständig, Fajnbrot und das Verkaufsgenie David Bermann, über Davids Geliebte, die Bankiersgattin und -witwe »Baby« Kleefeld und ihre beiden Söhne Moritz und Alfred, über die Juden und ihr Überleben, die Deutschen und ihre Trümmer, über die Amis und das neue Lebensgefühl und die, die dieses Leben nicht mehr aushielten und dem ein Ende setzten, all das geht mit Bergmanns drittem Roman, der im Frankfurt von heute spielt, zu Ende.

Die Stadt, einst graubraun und staubig, nun aufpoliert und glänzend, bietet keinen Raum mehr für Aufbruch, Fantasie und Träume. So erstarrt wie Frankfurt erscheinen auch die beiden alten Herren, Moritz und Alfred Kleefeld, ungleiche Brüder, zusammengeschweißt durch ihre Einsamkeit. Beide haben keine Kinder. Moritz, dessen Ehe von gegenseitigem Unverständnis und Kälte geprägt war, ist verwitwet. Alfred war nie verheiratet. Jetzt sind die Brüder wieder dort, wo sie als Kinder gelebt haben. Sie wohnen zusammen in Moritz’ Gründerzeitvilla im Westend.

Die beiden Siebziger pflegen ihre Marotten. Moritz, einst Student der Frankfurter Schule, früherer Linker und Sozialist, der gelegentlich als Professor der Psychologie in Berkeley, Kalifornien, unterrichtete, hat sich einer »Orthodoxie light« verschrieben und besteht auf einem koscherem Haus, besonders, wenn das seinen Bruder Alfred zur Weißglut treibt, der sich dann durch lautstarke Ankündigungen eines außerhäusigen Dinners bei ausgiebigem Verzehr von Chaser revanchiert. Alfred wiederum hängt seiner vergangenen Glorie als B-Movie-Akteur in Roms Cinecittà nach und wehrt sich entschieden gegen die Erziehungsversuche seines älteren Bruders.

haushälterin Die häusliche Ordnung der beiden »alten Kackes«, wie sie sich selbst bezeichnen, droht zusammenzubrechen, als Moritz’ langjährige Haushälterin in Rente geht und das Haus verlässt, um ihrer randständigen Tochter mit derzeitigem Lebensgefährten und vier ungebärdigen Kindern in die tiefste hessische Provinz zu folgen. Auf die freie Stelle bewirbt sich die junge, bildschöne Palästinenserin Zamira. Vom Fleck weg eingestellt, muss sie von nun an einen koscheren Haushalt führen und stellt sich dieser Anforderung mit erstaunlicher Unbefangenheit.

Die beiden alten Herren wiederum zeigen sich der jungen Frau gegenüber von ihrer freundlichsten und fürsorglichsten Seite. Sie spiegeln sich in Zamiras Jugend, für eine Weile sind Alter und Zipperlein vergessen, bis die Hypochondrie oder tatsächliche Leiden sowie Eifersucht und Rivalität sie wieder einholen. Das Zusammenleben mit der arabischen Haushälterin bleibt auch nicht spannungsfrei. Gemeinsames Nachrichten- sehen ist eine schwere Herausforderung für das Dreiergespann, denn Zamira hält mit ihrer Kritik an der israelischen Politik nicht hinterm Berg. Und doch ist sie bereit, sich auch mit dem Standpunkt der beiden Brüder auseinanderzusetzen.

Derweil erstarren die beiden Brüder in einer Art kaltem Krieg, in dem jeder dem anderen verbal größtmöglichen Schaden antut. Alte Wunden, unerfüllte Jugendlieben, Bedauern über Versäumtes bestimmen ihren Alltag. Das Zusammenleben wird zunehmend schwierig und häufig unerträglich. Alfred, ohne festes Einkommen, fühlt sich von Moritz, der es zu auskömmlichem Wohlstand gebracht hat, abhängig.

Moritz empfindet seinen Bruder als schlampig und verantwortungslos, Alfred sieht in Moritz einen kleinlichen Pedanten. Sie gehen sich gegenseitig mächtig auf die Nerven. Zamira, die nicht nur jung und schön, sondern auch mit Empathie und Intuition begabt ist, trennt deshalb die Brüder symbolisch, indem sie ihre Nachnamen spaltet. Moritz und Alfred Kleefeld sind für sie fortan Herr Klee und Herr Feld.

endzeitstimmung Zamira ist der Lichtblick in der düsteren Westendvilla, sogar als ihre furchtbare Vergangenheit in Form eines gewalttätigen deutschen Ehemannes brutal in das Haus eindringt. Sonst aber herrscht die Vergangenheit über die Gegenwart. Moritz und Alfred sind fixiert auf das Festhalten an Überkommenem. Familiengeheimnisse, der tragische Tod von »Baby«, ihrer starken und so lebenstüchtigen Mutter, sowie eine über lange Jahre ungeklärte Vaterschaft brodeln unter der Oberfläche und entladen sich schließlich in einem schrecklichen und todbringenden Streit.

Michel Bergmanns erster Roman, Die Teilacher, beschrieb das Leben der Juden am Main unmittelbar nach der Schoa, handelte von Geretteten mit nichts und keiner Menschenseele zurückgelassen in einer zertrümmerten Welt. Und doch waren diese Überlebenden hoffend, agierend, lebendig, witzig und voller Charme. Sie wollten etwas aufbauen, sie wollten leben. In Herr Klee und Herr Feld vermisst man die Kraft, den leichtfüßigen Witz und die Frische des ersten Buchs.

Der Charme bleibt spröde, der Witz will nicht so recht von der Zunge. Die Kleefeld-Brüder sind eigentlich noch gar nicht so alt, doch scheint ihr Leben vorzeitig zu Ende zu sein. Ihr ständiger Streit hat nichts Erfrischendes und führt ins Nirgendwo. Momente von Zuneigung und gegenseitigem Verständnis sind so selten wie rührend. Die Zeit, in der die beiden geboren wurden und die sie als Kinder erlebt haben, danach Flucht, Ermordung des Vaters, Wiederkehr, Trennung, Wiederannäherung bei der Beerdigung der Mutter, Schuldgefühle und Einsamkeit lasten auf ihnen. Alfred und Moritz Kleefeld wirken verloren und verletzlich. Sie brauchen so viel. Und wie sie, vermissen auch wir ihre und unsere Eltern und deren Freunde, die Überlebenden der Jahre nach dem Ende, nach dem Neuanfang.

Michel Bergmann: »Herr Klee und Herr Feld«. Arche, Hamburg 2013, 400 S., 19,95 €

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024