Wuligers Woche

Wenn in Nahost die Phrasen blühen

Der nächste Leserbrief kommt bestimmt. Foto: Getty Images

Seit einiger Zeit schon will ich ein Glossar der abgenudeltsten Phrasen aus deutschen Nahostdiskussionen schreiben. Dass das bisher nicht geklappt hat, liegt an meiner Faulheit. Ich habe keine Lust, mich durch Tausende Artikel, Reden, Facebook-Posts und andere Wortmeldungen zu quälen, in denen Bundesbürger ihre mehr oder minder – in der Regel minder – sachkundige Meinung zur Lage zwischen Mittelmeer und Jordan kundtun. Außerdem fürchte ich um meine seelische Ausgeglichenheit. Diese Art Lektüre verursacht mir schon in kleineren Dosierungen depressive Verstimmungen.

Umso dankbarer bin ich Professor Dr. Klaus Brake von der Technischen Universität Berlin dafür, dass er mir jetzt die mühselige Arbeit abgenommen hat. In einem Leserbrief an die »Süddeutsche Zeitung« vom 22. April ist es dem Wissenschaftler gelungen, fast sämtliche Plattitüden der hiesigen »Israelkritik« in nur fünf Sätzen auf sieben Druckzeilen perfekt zu komprimieren.

METAPHER Der emeritierte Urbanistikforscher beginnt zunächst mit einer in diesem Kontext gern verwendeten, wenngleich hier etwas missglückten Metapher: »Mit seinen neuen Annexions-Gelüsten legt Herr Netanjahu seine Lunte weiter, die zu einem Flächenbrand dort werden kann.« »Netanjahus Lunte« klingt irgendwie frivol, vor allem im Zusammenhang mit »Gelüsten«. Und wie eine Lunte zum Flächenbrand mutieren kann, ist mir nicht ganz klar. Aber vielleicht handelt es sich um ein gängiges technisches Phänomen, von dem Professor Brake als Diplom-Ingenieur mehr versteht als ich.

Natürlich sind Israelkritiker vor allem von der Sorge um das Wohl des jüdischen Staates beseelt.

Weiter im Text: »Die ganze Region wird noch labiler und die Existenz Israels gefährdet.« Denn natürlich sind Israelkritiker vor allem von der Sorge um das Wohl des jüdischen Staates beseelt.
Die Zuneigung gibt es aber nicht umsonst: »Soweit wir diese garantieren wollen, muss von Israel verlangt werden, derart kontraproduktive Polarisierungen zu unterlassen – notfalls mit materiellen Sanktionen.« Wer nicht auf Brake hören will, muss fühlen, vor allem bei kontraproduktiven Polarisierungen.

HERZENSANLIEGEN Klaus Brake ist inzwischen bei der historischen Verantwortung Deutschlands angekommen, die, wenngleich sie ihm ein Herzensanliegen ist, auch ihre Grenzen hat: »Unsere Verantwortung ist kein Freibrief und ohne Weiteres strapazierbar, indem Israel uns auf der Nase herumtanzt.« Israel tanzt mit einem überstrapazierten Freibrief auf der deutschen Nase herum. Das tut bestimmt weh. Kein Wunder, dass der Professor böse wird: »Irgendwann ist auch nachsichtige Geduld am Ende.« Danach kommt dann wohl unnachsichtige Geduld. Oder nachsichtige Unduldsamkeit? Jedenfalls wird das den Israelis eine Lehre sein.

Die Sammlung von Gemeinplätzen wäre perfekt, würde nicht ein Standardelement fehlen: Warum erwähnt Herr Brake keine Israelis oder Juden, die auch seiner Meinung sind? Mindestens für einen Moshe, ob Zimmer- oder Zuckermann, wäre doch noch Platz gewesen. Aber die kommen vielleicht im nächsten Leserbrief.

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  09.12.2025

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 09.12.2025

Sehen!

»Golden Girls«

Die visionäre Serie rückte schon in den jugendwahnhaftigen 80er-Jahren ältere, selbstbestimmt männerlos lebende Frauen in den Fokus

von Katharina Cichosch  09.12.2025

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025