Sprachgeschichte(n)

Weder Gurken noch sauer

Nichts zu melden: Zeitungen im Sommerloch Foto: imago

Sprachgeschichte(n)

Weder Gurken noch sauer

Wie aus missverstandenem Jiddisch die nachrichtenarme Sommerzeit wurde

von Christoph Gutknecht  03.07.2012 16:39 Uhr

Für deutsche Zeitungen (auch diese) und andere Medien ist die ereignisarme Spanne des Sommers die »Sauregurkenzeit«. Das Wort gab es schon im 19. Jahrhundert. An Goethe schrieb der Musiker Carl Friedrich Zelter am 31. Juli 1821 aus Berlin: »Unser Theater ist jetzt wieder lavierend, wie immer in der Sauregurkenzeit.« Und am 7. Oktober 1854 vermeldete die in Dessau erschienene Zeitschrift Atlantis in einem Bericht aus London »Sauregurkenzeit in der Literatur«. Der Kladderadatsch, ein Berliner humoristisch-satirisches Wochenblatt, attestierte den Verlegenheitsberichten der Presse im Sommer 1856 einen »starken Beigeschmack der Sauregurkenzeit«.

Auch im Englischen gibt, beziehungsweise gab es eine dem Deutschen analoge »cucumber time«. Sie bezog sich allerdings nicht auf Zeitungen, sondern auf arme Schneider, die, wie man im Volksmund witzelte, Gurken essen, wenn sie arbeitslos sind und Kohl, wenn sie viel zu tun haben. Die nachrichtenarme Zeit in den Medien heißt in Großbritannien »silly season« – Saison der Albernheiten. Angesichts der Schlagzeilen und Artikel in vielen Blättern ein sehr passender Begriff.

falsche herleitung Fast alle deutschen Wörterbücher – mit der rühmlichen Ausnahme von Meyers Enzyklopädischem Lexikon – führen die Sauregurkenzeit im Sinne des medialen Sommerlochs auf ein Scherzwort Berliner Kaufleute und die regionalen Spreewälder Gurken zurück.

Dabei könnte man es besser wissen: Die geografische Verortung stimmt, die etymologische Herleitung nicht. Schon Salcia Landmanns Jiddisch: Abenteuer einer Sprache (1962), Günter Puchners Arbeit über die Gaunersprache, betitelt Kundenschall (1974), Siegmund A. Wolfs Wörterbuch des Rotwelschen (1993) und Andreas Nachamas Jiddisch im Berliner Jargon (1994) haben den Weg zu einer plausibleren Erklärung gewiesen. Sie führt zu einer jiddischen Quelle, die tatsächlich in Berlin stand. Denn wie der Marburger Germanist Norbert Nail 1983 anmerkte: ».... gerade Berlin ist eines der Einfallstore für rotwelsches und jiddisches Sprachgut in die deutsche Sprache gewesen«.

Unser Wort hat ursprünglich nichts mit Gurken zu tun. Die »Zores- und Jokresszeit« bezeichnete im Jiddischen die Periode der Leiden und der Teuerung. Die Begriffe leiten sich vom hebräischen »zará/zarót« (Not, Bedrängnis, Sorgen) und »jakrút« (Preisanstieg, Teuerung) ab, jiddisch »zóre« und »jóker« (teuer).

volksetymologie Die schon erwähnte Zeitung Kladderadatsch lag 1857 deshalb ziemlich richtig, als sie einer mageren wirtschaftlichen Periode die Zeilen widmete: »Beglückt der Mann,/der, von Geschäften fern,/In dieser Zeit des sauren Gurkentums/Hinaus kann eilen.« Oder wie die Berliner Zeitung 1995 in einer Rezension zu Nachamas Buch die Sauregurkenzeit berlinerisch definierte: » ... eene Zeit, in der man nischt vakoofen kann, weil man sich nach ‹nem Preisanstiech nur noch Sorjen machen kann«.

Dass aus Leiden, Not und Teuerung am Ende saure Gurken wurden, ist ein klassischer Fall von Volksetymologie, jenes Sprachwandels, bei dem ein unbekanntes Fremdwort nach dem Vorbild eines vertraut klingenden Wortes in die Nehmersprache eingegliedert wird. Gelegentlich kann es später dann sogar passieren, dass das Missverständnis in die Ursprungssprache rückexportiert wird. So im Fall unserer Sauregurkenzeit: Auch im Hebräischen kennt man heute die »onat ha’melafefonim«.

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