Herr Wimmer, die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds ist zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden. Darf man diesen Band in der Bayerischen Staatsbibliothek überhaupt in die Hand nehmen?
Nein, das ist einer der wertvollsten Buchschätze der Welt. Er wird nur zu seltenen Gelegenheiten angefasst. Aber er ist vollständig digitalisiert. Um ihn einzusehen, muss man gar nicht nach München kommen, sondern das geht im Internet weltweit und kostenfrei.
Was ist das Besondere an diesem Werk?
Es ist die weltweit einzige erhaltene Handschrift, die den vollständigen Babylonischen Talmud enthält. Vor dem Buchdruck hat man den Talmud in der Regel nicht vollständig in einem Band kopiert, sondern einzelne Traktate oder einzelne Ordnungen. Es ist ein seltenes Glück, dass eine vollständige Handschrift überlebt hat.
Wie konnte das gelingen?
Diese Handschrift von 1342 gehörte zunächst der Familie des Oberrabbiners von Paris. Bei der Vertreibung der Juden aus Frankreich nahm sie das Buch nach Italien mit. Als dort im großen Stil Talmudverbrennungen stattfanden, war das Buch bereits nach nördlich der Alpen verkauft worden. Schließlich gelangte es an das Augustiner Chorherrenstift Polling bei Weilheim in Oberbayern. Mit der Säkularisation in Bayern 1803 kamen die wertvollsten Bestände aus allen Klosterbibliotheken an die Hofbibliothek in München. Weil es staatlicher Besitz war, haben die Nazi-Barbaren die hebräischen Schriften der Bayerischen Staatsbibliothek nicht angetastet.
Wer sind die Menschen, die sich die Handschrift online ansehen?
Bei Jüdinnen und Juden, die sich mit dem Talmud befassen, ist diese Handschrift sehr bekannt. Wenn ich zu Kongressen nach Israel oder nach Amerika fahre und sage, dass ich von der Bayerischen Staatsbibliothek komme, dann erstarren manche vor Ehrfurcht. Für die Talmudwissenschaft ist diese Handschrift die wichtigste Quelle, weil sie enorm viele Textvarianten bewahrt hat.
Was bedeutet die Aufnahme ins Weltkulturerbe, die jetzt offiziell gefeiert wurde?
Es ist eine schöne und angemessene Würdigung. Was ich mir konkret erhoffe: dass nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, was wir hier für einen Buchschatz haben. Und dass man sich damit beschäftigt, was der Talmud ist und was er nicht ist. Jahrhundertelang wurde er gezielt verfälscht und verzerrt dargestellt, es stünden darin angeblich anstößige Dinge über das Christentum. Aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Talmud setzt ein lebenslanges Studium voraus. Das kann man nicht von jedem erwarten. Aber man sollte doch offen und aufrichtig mit dem umgehen, was anderen Menschen heilig ist.
Mit dem Referenten für Hebraica und Alter Orient der Bayerischen Staatsbibliothek in München sprach Ayala Goldmann.