Literatur

Warum Norman Manea den Literaturnobelpreis mehr als verdient hätte

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Warum Norman Manea den Literaturnobelpreis mehr als verdient hätte

Über das beeindruckende Spätwerk Norman Maneas, der in den 80er-Jahren Rumänien verließ und heute in den USA lebt

von Alexander Kluy  04.10.2023 18:17 Uhr

Es ist höchste Zeit, dass die Schweden aufwachen. In erster Linie jene 21, die das Komitee bilden, das jedes Jahr im Herbst, also morgen, den Nobelpreis für Literatur vergibt. Denn Norman Manea sollte, nein: Er muss ihn in diesem Jahr erhalten.

Fast 30 Jahre lang waren Manea und Philip Roth miteinander befreundet. Und fast ebenso lange plädierte der Amerikaner, der 1933 zur Welt kam, mit Ende 20 für literarisches Aufsehen sorgte und sowohl kritischen als auch kommerziellen Erfolg hatte, dafür, dem um drei Jahre Jüngeren aus Burdujeni im Nordosten Rumäniens den Preis zuzusprechen.

Verlust Bei Norman Manea findet sich der Satz: »Im April 1945 war ich ein alter Mann, der gerade neun wurde.« An diesem Mittwoch (19. Juli) ist der Autor 87 Jahre alt geworden. Als Kind kam er ins KZ. Er verlor Vater und Mutter, hatte nur die jüngere Stiefschwester. Manea wuchs in Heimen auf, war als Jugendlicher entflammt für den Kommunismus – und bald schon enttäuscht. Der studierte Ingenieur zog sich in Bücher und Bibliotheken zurück.

Ab 1974 freier Autor in Bukarest, verließ er 1986 Rumänien. Er sprach ein wenig Deutsch, etwas Französisch, kein Wort Englisch und ließ sich nach kurzer Zwischenstation in West-Berlin in den Vereinigten Staaten nieder. Dort erhielt er 1989 am Bard College, einer namhaften Hochschule im US-Bundesstaat New York, erst eine Dozentur und war anschließend bis zum Jahr 2017 »Francis Flournoy Professor in European Studies and Culture«.

Das Exil ist Maneas Lebensthema, Leitmotiv und Leid-Motiv. Das Leben ist für ihn Exil. Das zeigt schon der Auftaktsatz von Der Schatten im Exil, seinem furiosen Alterswerk, das 2021 in Rumänien erschien und nun in Ernest Wichners feiner Übersetzung auf Deutsch vorliegt: »Das Exil beginnt mit dem Verlassen der Gebärmutter.« 2012 bekannte er in einem Interview: »Wenn man ins Exil geht, verliert man fast alles, aber was man in den Regalen in einer Bibliothek sieht, sind die Autoren, die man geliebt hat im alten Land.« Und meinte über die Erfahrung des Exils, dieses sei »nicht das Unbekannte ringsum, es ist auch das Unbekannte in uns selbst«.

geistesspiel Kunstvoll schreibt er in dieser »Roman-Collage«, anspruchsvoll, gebildet, fordernd. Und in nahezu jeder Hinsicht wagemutiger und lebensstoffreicher als halb so junge Autoren. Mit Exil, Brüchen, Abbrüchen, Schatten, Fremde jongliert Manea artistisch. Er ist ironisch, selbstironisch und hochliterarisch, sein Buch ein Geistesspiel von Anspielungen und parodistischen Verfremdungen, ein Spiel mit Literatur. Dann etwa, wenn die Hauptfigur seine Schwester »Agathe« nennt und die Konstellation aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften nachempfindet und nachschreibt.

Ergänzend kaleidoskopisch zitiert Manea auch aus wissenschaftlichen Aufsätzen über Exil und Fremde, über Liebe und den italienischen antifaschistischen Lyriker Eugenio Montale wie über Chamissos Helden Peter Schlemihl, ein Kristallisationspunkt der Identifikation und zugleich heillos wurzellose Spiegelfigur.

Wie so oft bei Manea ist es ein melancholisch gesättigtes, stilistisch feinsinniges, ein klug irisierendes Spiel mit ganz vielen autobiografischen Bezügen, die er (in den vergangenen 30 Jahren mit wichtigen Preisen gekürt, dem MacArthur Fellowship, dem National Jewish Book Award und zuletzt, im Jahr 2011, mit dem Nelly-Sachs-Preis) mal grotesk karikiert und verzerrt, dann wieder mit empathischer Einfühlsamkeit umreißt.

Favorit Eigentlich müsste sich das Nobelkommittén der Svenska Akademien zu Stockholm, das den Nobelpreis für Literatur vergibt, in diesem Jahr – nach den sacht irritierenden Ausreißern Abdulrazak Gurnah und der BDS-Sympathisantin Annie Ernaux – für Hochliteratur mit existenziellem Tiefgang entscheiden und den Preis Norman Manea zusprechen. An der Zeit wäre es; außerdem ist Rumänien bisher als Literatur-Land übergangen worden.

In seinem schönen Nachruf auf den Freund Philip Roth zitierte Norman Manea eine Passage aus dessen Roman Exit Ghost. »Wer von Ihren Zeitgenossen«, heißt es da, »wird nicht nur dem Tod entgehen, sondern auch mit Witz, Genauigkeit und Bescheidenheit über seine amüsierte Verblüffung angesichts der erreichten Unsterblichkeit schreiben?« Wer? Keine Frage! Norman Manea.

Norman Manea: »Der Schatten im Exil. Roman-Collage«. Übersetzt von Ernest Wichner, Carl Hanser, München 2023, 320 S., 28 €

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