Jüdischer Almanach

War früher alles besser?

Demonstration gegen die Justizreform in Tel Aviv im Oktober 2023 Foto: Marco Limberg

»Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.« Dieser Satz des Poeten Joachim Ringelnatz beschreibt das Wesen von Umbrüchen. Ebendieses Stichwort kürte Gisela Dachs, Journalistin und Professorin in Jerusalem, zum Leitthema für den neuen Jahrgang des Jüdischen Almanachs, den sie seit dem Jahr 2001 ediert. Wie müssen sich Herausgeberin und Verlag gefühlt haben, als es während der Druckfertigstellung in Israel einen nie da gewesenen »Umbruch« gab?

Galili Shahar, Inhaber des Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhls für Vergleichende Literatur an der Universität Tel Aviv, wählt in seinem Auftaktessay den Umbruch literarisch-etymologisch als Einstieg, wenn er feststellt, dass strukturelle Transformationen, paradigmatische Verschiebungen und Wandlungen als »Bruch« wahrgenommen würden, als Trennung, als Unterbrechung. Oder, um es mit einem Fremdwort auszudrücken: als Krise. Shahar umkreist erhellend viele Aspekte von »Maschber«, dem hebräischen Wort dafür, von Umbrüchen in vielerlei Hinsicht und Richtungen. Er offeriert radikale Veränderung als Antwort. Und als Einsicht.

Von diesem eher wissenschaftlich-akademischen Essay sollte man vorwärtsspringen zu Vivianne Bergs Text »Erinnerungswerke« (Zürich) über Memorialorte und Erinnerungskultur in der Stadt an der Limmat. Und von dort weiter zu Esther Orners 2010 publizierter, jetzt erstmals ins Deutsche übersetzter Prosavignette über Fragen »Wie weiterleben?«, »Wie existenziell-spirituell überleben?« bis hin zur Spiegelung des Suizids einer Freundin im Freitod Virginia Woolfs.

Einen anderen biografischen Umbruch zeichnet Jacqueline Hénard in einem feinen Porträt, einer Pionier-Arbeit, nach, und zwar das Leben des Architekten Ossip Klarwein. 1893 in Warschau geboren, in Berlin und Hamburg ausgebildet, dann an nicht wenigen Kirchenbauten in Berlin beteiligt, emigrierte er 1934 mit der Familie nach Palästina, ließ sich in Haifa nieder, änderte seinen Vornamen in »Joseph« und baute öffentliche und gewerbliche Gebäude, etwa das Getreidesilo Dagon am Hafen von Haifa, heute ein Museum, das Rathaus in Nahariya oder das Fakultätsgebäude der Juristen auf dem Campus Givat Ram der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Am wichtigsten und unübersehbar: das israelische Parlament, die Knesset. Heftig gezaust für seinen Entwurf, erlebte er 1966 die Eröffnung nach fast neun Jahren Entwurfs- und Bauzeit. 1970 starb Klarwein nach einem Leben voller biografischer, geografischer und künstlerisch-architektonischer Umbrüche.

Andere Beiträge befassen sich mit Überleben und Erneuerung des deutschsprachigen Judentums im 19. Jahrhundert, mit Typografie und Tradition, mit Demokratie und rassistischen Visionen, mit deutsch-jüdischen Intellektuellen. Die Autorin Nitzan Lebovic stellt Martin Buber, Walter Benjamin und Hannah Arendt gewagt den Lyriker Paul Celan an die Seite.

Außerdem geht es um antisemitische Verschwörungstheorien zu Pandemiezeiten, Sprachfragen und den Wandel der jüdischen Gemeinde im Iran seit 1940. Im Buch abgebildet sind auch Fotografien der regierungskritischen Demonstrationen gegen die sogenannte Justizreform in Israel, die den Einfluss der Obersten Gerichtshofs beschneiden sollte.

Die Gedanken Anja Siegemunds, Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin, über »Alte Bündnisse, neue Verortungen und andere Umbrüche in der Erinnerungskultur«, überschrieben mit der nur zur Hälfte rhetorischen Frage »Auseinandergelebt?«, bringen prägnant die breit gestreuten Aspekte des lesenswerten Bandes auf den Punkt.

Wer spricht aus welcher Position, welche Rolle ist dieser Person zugewiesen, und was sind dezidiert jüdische Perspektiven auf Spaltungen, ob politische oder soziale, auf Historie und zukünftige Erinnerungskultur, auf Zuschreibung und Selbstverortung, die mit Sicherheit in Umbruchszeiten nicht sicher ist?

Gisela Dachs (Hrsg.): »Umbrüche. Neues und Altes aus der jüdischen Welt«. Jüdischer Verlag, Berlin 2023, 252 S., 24 €

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 27.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. November bis zum 3. Dezember

 27.11.2025

Fernsehen

Zieht Gil Ofarim ins Dschungelcamp? 

RTL kommentiert noch keine Namen - doch die Kandidaten-Gerüchte um Gil Ofarim und Simone Ballack sorgen schon jetzt für reichlich Gesprächsstoff

von Jonas-Erik Schmidt  27.11.2025

Rezension

Ein Feel-Good-Film voller kleiner Wunder

Ein Junge, der nicht laufen kann, Ärzte, die aufgeben, eine Mutter, die unbeirrt kämpft. »Mit Liebe und Chansons« erzählt mit Herz und Humor, wie Liebe jede Prognose überwindet

 27.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  27.11.2025

Kino

Echte Zumutung

Ronan Day-Lewis drehte mit seinem Vater Daniel als Hauptfigur. Ein bemühtes Regiedebüt über Gewalt und Missbrauch

von Maria Ossowski  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Ausmalen gegen die Realität

Kinderbücher sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, Kinder niederschwellig zu prägen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025