Geschichte

Vor dem Sturm

Britische Historiker überraschen ihre deutschen Kollegen und das Publikum immer wieder mit ungewöhnlichen Bewertungen der jüngeren deutschen Geschichte. Besonders erfolgreich dabei war Christopher Clark mit seiner milden Beurteilung Kaiser Wilhelms II. und seinem »schlafwandlerischen« Freispruch der Deutschen von der Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Der Titel Der Krieg, den keiner wollte steht über dem neuesten Buch des 1947 geborenen britischen Historikers Frederick Taylor, das sich mit dem letzten Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Sein Autor hat nicht die Absicht, die bestens erforschte politische Geschichte dieses letzten Friedensjahres umzuschreiben, obwohl der Untertitel darauf hindeuten könnte: »Eine andere Geschichte des Jahres 1939«. Das Buch behandelt – eher in soziologischer Manier – die Befindlichkeiten der britischen und der deutschen Bevölkerung in Hinblick auf einen künftigen Krieg.

Trotzdem – der Einleitungssatz des Werkes irritiert: »In dem entscheidenden Jahr zwischen Herbst 1938 und Herbst 1939 schlitterten die Völker Europas von der Friedensverheißung in den totalen Krieg.« So war es einfach nicht! Hitler und die Spitze der Nazis wollten den Krieg, und die Westmächte versuchten, ihn mit untauglichen Mitteln wie dem Münchner Abkommen zu verhindern oder wenigstens auf lange Zeit zu vertagen. Insofern entsteht durch Titel und Einleitung ein falscher Eindruck von dem Buch.

KINDERTRANSPORTE Es handelt vielmehr von dem Fehlen jeder Kriegsbegeisterung in den Bevölkerungen der beiden untersuchten Länder. Es handelt auch von der Verschärfung der Verfolgung der Juden durch die Nazis, von der tragischen Reserviertheit Großbritanniens, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland ging, es handelt von den rettenden Kindertransporten nach England und von der Weigerung der britischen Regierung, bedrohten Juden Einlass in das britische Mandatsgebiet Palästina zu gewähren.

Großbritannien stand der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge sehr reserviert gegenüber.

Vor allem aber handelt es davon, was der Volksmund auf beiden Seiten der Nordsee dazu sagte. Vieles davon liest sich heute nicht ohne Scham.

Eine Meinungsumfrage ist ja 80 Jahre später nicht mehr nachzuholen. Für Deutschland liegen immerhin die auch sonst in der Historiografie als mehr oder weniger »objektive« Quellen benutzten Berichte des Sicherheitsdienstes der Nazis vor, für England das Mass Observation Archive. Beide geben ein grobes, aber einigermaßen zuverlässiges Stimmungsbild wieder, obwohl sie von so unterschiedlichen Auftraggebern veranlasst wurden.

Taylor hat es aber nicht bei der Auswertung dieser Quellen bewenden lassen, sondern in beiden Ländern späte Interviews geführt, in ganz England und in Berlin sowie in München im Herbst 2017. Eine selten benutzte Quellensammlung hat er im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen erschlossen und daraus umfangreich zitiert. Mit geeigneten Zitaten aus den Medien weist er auf die Beeinflussung der Volksstimmung durch Zeitungen und Rundfunk hin. Aus Deutschland hat er insbesondere die »Freiburger Zeitung« ausgewertet, die total gleichgeschaltet als eines der vielen Sprachrohre von Goebbels wirkte. Dessen Tagebücher hatte Taylor übrigens ins Englische übersetzt.

FORDERUNGEN So fügen sich offizielle, eher geheimdienstlich erhobene Sammelberichte, zeitnah geschriebene Tagebucheintragungen und die Erinnerungen alt gewordener Interviewpartner zu einem Bild der Öffentlichkeit, das in beiden Ländern eigentlich von dem Wunsch nach Frieden geprägt war. Allerdings mit entscheidenden Unterschieden: Die deutsche Bevölkerung stand zu maßgeblichen Teilen hinter Hitler, auch hinter seiner Expansionspolitik, dem »Anschluss« Österreichs, der Eingliederung der Sudeten und des Memellandes, der Zerschlagung der restlichen Tschechoslowakei und auch hinsichtlich des Anspruchs auf Rückgabe Danzigs und der Einräumung eines Korridors durch Polen zur Verbindung nach Ostpreußen.

Die Deutschen standen hinter Hitlers Zielen, glaubten aber, sie ließen sich ohne Krieg erreichen.

Diese Forderungen Hitlers – alle gegen den in Deutschland verhassten Versailler Friedensvertrag – wurden von der großen Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt, und sie traute Hitler zu, dass er diese und alle weiteren Ziele auf friedlichem Wege erreichen würde. Man erhoffte diesen friedlichen Weg, wollte keinen Krieg, oder nur dann, wenn das alles anders nicht zu erreichen war.

VERSTÄNDNIS In England hatte die Bevölkerung ein gewisses Verständnis für die territorialen Ziele der Deutschen. Das verhängnisvolle Münchner Abkommen wurde als kriegsverhindernd gefeiert, die Popularität des britischen Premiers Chamberlain erreichte danach ihren Höhepunkt. Erst die folgenden Wort- und Vertragsbrüche Hitlers führten zu einem Stimmungsumschwung auf der Insel und dazu, dass sich die Bevölkerung in ziviler Weise auf einen Krieg vorbereitete. Man glaubte Hitler dessen Friedensbeteuerungen nicht mehr, hätte den Krieg aber gern verhindert.

Taylor verknüpft sehr geschickt die Stimmen aus dem Volk mit der Darstellung der Politik der Regierungen. Es entsteht aber nicht die angekündigte »andere Geschichte« des Jahres 1939, sondern ein gleichwohl erhellender, zu kontroversen Beurteilungen führender, sicher nicht abschließender Blick auf die öffentliche Meinung in dieser unmittelbaren Vorkriegszeit.

Frederick Taylor: »Der Krieg, den keiner wollte. Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939«. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heide Lutosch. Siedler, München 2019, 432 S., 30 €

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