»Ein leeres Haus«

Vom Überleben des Überlebens

Straßenszene in Amsterdam, Oktober 1945 Foto: picture alliance/KEYSTONE

»Ein leeres Haus«

Vom Überleben des Überlebens

Marga Mincos konziser Roman erzählt in präzisen, unvergesslichen Bildern von der Nachkriegs-Existenz einer mutigen jungen Frau

von Marko Martin  18.10.2020 08:03 Uhr

Drei Tage im Nachkriegsleben einer jungen Frau, die als holländische Jüdin den Holocaust in einem Amsterdamer Versteck überlebt hatte – als Einzige ihrer Familie und Verwandtschaft. Die Schriftstellerin Marga Minco, die in diesem Frühjahr ihren 100. Geburtstag feiern konnte, hatte den (vermutlich autobiografisch grundierten) Kurzroman Ein leeres Haus bereits 1966 publiziert. Jetzt ist er in deutscher Übersetzung erschienen, und so wie es Mitte der 60er-Jahre keineswegs zu spät war, über die unmittelbare Nachkriegszeit zu schreiben, so hat auch der Text nun nach beinahe einem halben Jahrhundert keinerlei Patina angesetzt.

Denn wie nahe rückt uns – gerade in ihrem Zögern, ihrer selbstbewussten Dis­tanz – diese Sepha, die im ersten Kapitel an einem heißen Juninachmittag 1945 in ihre unwirtliche Bleibe nach Amsterdam zurückkehrt, nachdem sie zuvor auf Wunsch ihres Freundes Mark ein paar Wochen auf dem Land zugebracht hatte. Weder er noch sie verwenden unnütze Worte wie »Erholung«, doch im Gegensatz zu der gleichaltrigen Yona, die in der Sommerhitze ebenfalls versucht, nach Amsterdam zurückzutrampen, scheint Sepha ihr neues Leben quasi »im Griff« zu haben.

GEGENWART Selbstverständlich täuscht ihre Ruhe und Gelassenheit beim Rauchen und Reden, und wenn sie sich an das Davor erinnert, an das gastfreundlich-großbürgerliche Haus ihrer inzwischen vollständig ausgelöschten Familie, gleitet der Text sofort ins Präsens – so, als könnte nur in der Erinnerung Gegenwart sein. Lakonisch sind die Unterhaltungen mit Yona, die ebenfalls als Einzige ihrer Familie überlebt hat und nun nach dem Warum fragt. »Wir müssen weitermachen«, sagt Sepha, um dann sogleich zu verstummen. »Ich konnte es nicht. Es klang wie die abgedroschenen Phrasen eines Pfarrers zum Sendeschluss.«

Der autobiografisch grundierte Kurzroman erschien bereits 1966
in den Niederlanden.

Umso schärfer ihr Blick auf die Details jenes Einfach-weiter-so, das freilich nur den Unbeteiligten (und einstigen Mitläufern, womöglich gar Mittätern) vorbehalten ist und vor dem sie schließlich, im zweiten Kapitel des Romans, nach Südfrankreich flüchtet: ein Frühlingstag 1947, an dem sie in einem Stranddörfchen hinter Perpignan ihren nunmehrigen Ehemann Mark erwartet, der zuvor in Amsterdam eine Affäre mit einer anderen Frau begonnen hatte, während sie hier im Süden kurz Zuflucht in den Armen eines jungen Einheimischen gefunden hatte.

Moderne Und wieder das frappierend Moderne von Marga Mincos Prosa: Nicht etwa redselig-schuldbewusst erinnert sich Sepha an das mediterrane Abenteuer, während sie Mark vom Bahnhof abholt, sondern in sinnlich-präzisen Bildern, die bis heute nichts von ihrem diamanthart schmerzenden Glanz eingebüßt haben.

Während die Pensionswirtin alsdann ein fröhliches »Oh, le mari, le mari« flötet, wissen es Sepha und Mark besser – und wissen dann dennoch auch am dritten (Roman-)Tag, im Frühjahr 1950, noch keineswegs, ob die einst miteinander geteilte Zeit in den Jahren der Okkupation das Kraftreservoir für ein zukünftiges gemeinsames Leben bilden könnte, oder ob sie das Wagnis eines Neu-Beginnens eingehen sollten. (Yona aber ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, »aus einem Zug gefallen«, wobei offenbleibt, ob dies ein Unfall oder Suizid war.)

NÄHE Der Leser indessen, zutiefst berührt von der unpathetischen Zärtlichkeit und illusionslosen Nähe zwischen Mark und Sepha, beginnt, auf den letzten Buchseiten nachzuschlagen, und liest in der vom Verlag beigefügten biografischen Notiz: »Nach dem Krieg begann Marga Minco, Kurzgeschichten zu schreiben. Sie heiratete den Dichter und Übersetzer Bert Voeten (1918–1992), den sie seit 1938 kannte, als er erste Lyrik schrieb, und der mit ihr in der Illegalität gelebt hatte. Gemeinsam bekamen sie zwei Töchter, eine von ihnen ist die Journalistin und Autorin Jessica
Voeten.«

Ein Autorenfoto aus den frühen Sechzigern zeigt Marga Minco mit üppig schwarzem Haar und aufmerksam abgewandtem Blick, und die Zigarette im Mund zwar durchaus an die Filmheldinnen der damaligen Nouvelle Vague erinnernd, doch ohne jede Pose: Diese Frau, so ist zu erahnen, hat weit mehr erlebt als das sogenannte Übliche, und sie hat die Sprache dafür, genau davon zu erzählen.

Diese Frau hat mehr erlebt als das Übliche, und sie hat die Sprache dafür, davon zu erzählen.

Wie großartig deshalb, dass der rührige Arco-Verlag neben Marga Mincos Roman Ein leeres Haus nun auch Das bittere Kraut, das quasi die Vorgeschichte während der Besatzung erzählt, publiziert hat – und im Oktober mit Nachgelassene Tage ein weiteres Buch der Autorin veröffentlichen wird. In den Niederlanden längst als eine der wichtigsten Nachkriegsautorinnen anerkannt und preisgekrönt, ist die faszinierende Solitärin Marga Minco nun endlich auch in Deutschland zu entdecken.

Marga Minco: »Ein leeres Haus«. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco, Wuppertal 2020, 170 S., 22 €

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