Geschichte

Verzerrte Enzyklopädie

Wikipedia: bekannt als sachliche Informationsquelle, doch ein genauer Blick auf das Online-Lexikon wirft Fragen auf Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto

Sie nennen sich Volunteer Marek, Piotrus oder GizzyCatBella – Pseudonyme in der Online-Welt der Enzyklopädie Wikipedia, in deren englischsprachigem Teil sie das Spezial­gebiet Holocaust bearbeiten. Genauer: die Rolle der polnischen Bevölkerung bei der systematischen Ermordung der europäischen Juden, die von den Nationalsozialisten initiiert, aber zum großen Teil auf osteuropäischem Boden in die Tat umgesetzt wurde.

Die »Wikipedians«, die sich dieser Beiträge als Autoren, aber auch in redaktioneller Hinsicht annehmen, verfolgen bei dieser Aufgabe eine klare Agenda. Sie nehmen die Perspektive des aktuellen rechten Nationalismus in Polen ein, die sich politisch in der Regierung der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) und kulturell unter anderem in der Arbeit des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) manifestiert.

Haifa Zu diesem Schluss kommen die Holocaust-Forscher Jan Grabowski (University of Ottawa) und Shira Klein (Chapman University Orange, Kalifornien) in ihrem Essay Wikipedia’s Intentional Distortion of the History of the Holocaust, der soeben im Journal of Holocaust Research erschienen ist – herausgegeben wird es unter anderem von der Universität Haifa.

Die Belege für die These, dass die englischsprachige Wikipedia-Sektion die Geschichte der Schoa in voller Absicht verzerrt darstellt, sind vielfältig und gut abgesichert: Grabowski und Klein haben mehr als 25 öffentlich zugängliche Seiten sowie fast 300 sogenannte Hintergrundseiten ausgewertet, die etwa Gesprächsnotizen enthalten. Vor allem aber ist die Arbeit ein beklemmendes Dokument für die intellektuelle Atmosphäre eines großen Teils der Gesellschaft Polens, dessen Regierung 2018 das »Holocaust-Gesetz« erließ. Seither ist es verboten, der polnischen Nation oder dem polnischen Staat eine Mitverantwortung an der Schoa zuzuschreiben.

Sie nehmen die Perspektive des aktuellen rechten Nationalismus in Polen ein.

Die Beiträge der Clique um die beiden Hauptautoren Volunteer Marek und Piotrus – hinter Letzterem verbirgt sich offenbar ein in Fernost tätiger Hochschullehrer aus Polen – sind geprägt von Relativierung, Verfälschung und der Inanspruchnahme dubioser Quellen bei gleichzeitiger Unterdrückung gesicherter Erkenntnisse, bis hin zur Verwendung antisemitischer Stereotype. So stellen die Wikipedians das Ausmaß der Hilfe katholischer Polen für verfolgte Jüdinnen und Juden in einem überaus günstigen Licht dar, während die Opfer vielfach selbst an ihrem Schicksal Schuld zu tragen scheinen – hätten Judenräte doch mit den Nazis kooperiert, habe sich der »Judeo-Bolschewismus« mit der kommunistischen Propaganda der Sowjet­union verbündet, während im Gegenzug noch nicht einmal das Zehntel eines einzigen Prozents polnischer Kollaboration mit den Nazis messbar sei. Für diese Behauptung lässt der Wikipedia-Artikel Fußnoten und andere Belege gleich ganz weg.

Stattdessen stellen die Verfasser katholische Polen – die selbstverständlich vielfach den Bedrängten halfen, wie Grabowski und Klein betonen – in übergroßer Zahl entweder als Opfer oder als Helden dar. Oder als beides, so wie es der rechte Populist Jan Zaryn tut, den Wikipedia distanzlos als Quelle heranzieht. Zaryn vertritt die Auffassung, dass die Kommunisten nach dem Krieg regelrecht Jagd auf ehemalige Retter von Juden eröffnet hätten. Tatsächlich waren es polnische Nationalisten, die den »Verrat« dieser Menschen rächen wollten, so wie im bekannten Fall der Antonina Wyrzykowska aus der Gegend um Jedwabne, die brutal attackiert wurde.

FEHLLEISTUNGEN Wikipedia hat sich zur weltweit größten Enzyklopädie entwickelt, das Online-Lexikon ist ein globaler Informationsspeicher, dessen Betreiber sich zugutehalten, unparteiisch zu sein und jede einseitige oder gar verzerrende Darstellung von ihren Seiten zu verbannen. Wie also kann es zu solchen Fehlleistungen kommen? Hier scheint Wikipedia an seinen eigenen Maßstäben zu scheitern: Piotrus und seinesgleichen sprechen sich gleichsam hinter den Kulissen ab, was eine Hauptregel der Wikipedians verletzt – die Kommunikation soll ausschließlich über die Plattform selbst erfolgen. Darüber hinaus wollen sich die Betreiber vielfach nicht einmischen, um ihre Un- oder Überparteilichkeit nicht infrage zu stellen.

Im Gegenzug haben die Autoren der Holocaust-Beiträge, zu denen anscheinend nur eine Autorin zählt, keine Hemmungen, Einträge zu löschen oder in ihrem Sinne zu ändern. Das geht auch mit rhetorischer Einschüchterung Dritter einher.
Ein Beispiel für einen solchen Eingriff findet sich im Wikipedia-Artikel »Jew With a Coin« (»Der Jude mit einer Münze«) – ein Artikel im Übrigen, der das Verhältnis der Autoren auch zum aktuellen Antisemitismus beleuchtet.

STEREOTYPE Für nichts anderes steht die Figur eines Chassiden mit großer Nase, der Geldstücke in der Hand hält und mitunter auch ein Dol­larzeichen auf dem Kaftan trägt: Sämtliche Stereotype vom Juden als geldgierigem Wucherer fließen in dieser Puppe zusammen, die sich in letzter Zeit in Polen immer größerer Beliebtheit erfreut, wobei sie laut Wikipedia-Eintrag diese Popularität einem völlig harmlosen Umstand verdanke. Schließlich liebten, nach einer Umfrage aus dem Jahr 2015, nahezu 20 Prozent der Polen ihren »Juden mit einer Münze« schlicht als Talisman und Glücksbringer in finanziellen Belangen. Dass seine Wirkung immerhin »kontroverse« Gefühle auslösen könne – dieser Hinweis fand sich nur für kurze Zeit bei Wikipedia. Piotrus hat ihn umgehend gelöscht.

Die Beiträge sind geprägt von Relativierung, Verfälschung und dubiosen Quellen.

In ihrer Schlussfolgerung mahnen Grabowski und Klein die Administratoren sowie die Wikipedia-Stiftung eindringlich, den Beiträgen der Plattform mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als Referenz könnte das kroatische Wikipedia dienen, das von rechten Scharfmachern geradezu gekapert worden war, nach dem Eingreifen der Stiftung und der dadurch mobilisierten Community jedoch zurückerobert und verbessert wurde. Im Fall von Piotrus, Volunteer Marek, GizzyCatBella und Co. scheint man mehr Zurückhaltung üben zu wollen. Jedenfalls gab man in einer Antwort auf die Anfrage der beiden Forschenden zu verstehen, die Foundation wolle erst tätig werden, wenn sich die freiwilligen Redakteure der englischsprachigen Wikipedia überfordert fühlten oder die entsprechende Community nicht über die nötige Übersicht verfüge.

Man fragt sich, warum Wikipedia das nicht längst so sieht, zumal es an kritischen Einwänden ja nicht fehlt. Dafür steht nicht zuletzt Grabowskis und Kleins Essay. Nicht nur für die Wissenschaft jedenfalls, da darf man sich mit dem Geschichtsprofessor aus Ottawa und der Geschichtswissenschaftlerin aus Kalifornien wohl einig sein, ist ein derartiger Umgang mit Fakten in einer Enzyklopädie untragbar.

Glosse

Ständig wird gestört

In Berlin stürmten erneut propalästinensische Kräfte in Anwesenheit von Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Bühne

von Michael Thaidigsmann  26.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  26.04.2024

Karl Kraus

»Als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe«

Zum 150. Geburtstag des großen Literaten und Satirikers

von Vladimir Vertlib  26.04.2024

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024