Was könnte im Zeitalter von »Wutbürgern« und autoritär-cholerischen Populisten relevanter sein als ein »Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit«? Dies ist der Untertitel von Martha Nussbaums neuem Buch Zorn und Vergebung, in dem die einflussreiche amerikanische Philosophin geistesgeschichtliche Traditionen, Musik und Kultur, aber auch die Weltpolitik auf konfliktvermeidende Potenziale abklopft.
Fündig wird sie bereits bei den Griechen, die einst den Mythos reformierten, um ihn gesellschaftskompatibel zu machen: Aus den rachedurstigen Erinnyen wurden die mahnenden Eumeniden, aus Affekt entwickelte sich Reflexion.
Chicago So erfreulich diese Wiederentdeckung der Wurzeln unseres Zusammenlebens ist – es hätte das umfangreiche, mitunter arg hermetisch geschriebene Buch spannender gemacht, hätte die in Chicago Rechtswissenschaft und Ethik lehrende Autorin auch den Mut gefunden zu erwähnen, wem wir – in der jüngsten Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart – die fortgesetzte Denunziation just dieser Kulturleistung als »pseudo-universellen Rationalismus« verdanken: linken Multikulti-Eiferern und neorechten Ideologen, die beide vom vermeintlich »Authentischen« schwadronieren, »Empört euch!« skandieren oder den verschwiemelten Zornbegriff des »Thymos« wieder salonfähig machen wollen.
Ohne diese Klarstellungen aber bekommt Martha Nussbaums verdienstvolle Studie, die auch kluge Interpretationen zur Vernunft-Thematik etwa bei Theodor Fontane und Philip Roth bietet, einen Zug ins allzu akademisch Betuliche.
Das gilt umso mehr, da sie als Beispiele für gelungene Zorn-Reduktion im Politischen lediglich die drei erwartbaren präsentiert: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela. Dass Mandelas staatspolitische wie menschliche Größe im Verzeihen auch ein Akt moralischer Rache an der Perfidie der Apartheid-Vollstrecker gewesen war (was er ja selbst konzidierte), möchte die Autorin nur ungern hören und insistiert lieber darauf, dass auch destruktive Mitmenschen »über die Fähigkeit verfügen, gut zu sein, wenn man sich ihnen in diesem Verständnis nähert und sie nicht zu hart zur Verantwortung zieht«.
Gegenwart Mit Verlaub: Angesichts totalitärer Vergangenheit und autoritärer Gegenwart wäre konkrete Machtkritik nötiger als solch einebnende Versöhnungsrhetorik, deren Menschenbild weniger von den skeptischen Griechen als von der Schwärmerei eines Jean-Jacques Rousseau geprägt zu sein scheint.
In einem aber hat die Philosophin durchaus recht – gegen die Putins, Petrys, Trumps und Erdogans dieser Welt: »Wenn eine Nation überdauern und die Menschen dazu bewegen soll, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, wird der öffentliche Bereich etwas von der Großzügigkeit und dem nicht-inquisitorischen Geist brauchen, die meiner Meinung nach auch im persönlichen Bereich angebracht sind.«
Allerdings scheint bei der 1947 geborenen Martha Nussbaum, die Anfang der 70er-Jahre zum Judentum konvertierte, dann doch das christliche Konzept der »anderen Wange« eine Art Option zu sein. Dabei wäre gerade die Frage, wie man Gelassenheit bewahrt, ohne dabei zur Spottfigur für die forciert »Zornigen« zu werden, von ungleich höherer Aktualität.
Glucksmann Konkrete Antworten bieten hier allerdings eher Bücher wie Carlo Strengers Zivilisierte Verachtung, Avishai Margalits Untersuchung Über Kompromisse und faule Kompromisse oder André Glucksmanns beunruhigendes Meisterwerk Hass.
Die Rückkehr einer elementaren Gewalt aus dem Jahr 2004. Martha Nussbaums voluminöse Studie hingegen lässt noch einmal Friedrich Schiller aufleben, der vor über 200 Jahren genau wusste, wie man Menschenschinder – in diesem Fall die ruchlosen Mörder des Ibykus – quasi per gewaltlosem Flügelschlag dingfest macht: »Gebet acht,/ das ist der Eumeniden Macht«. Dabei müsste sich doch inzwischen herumgesprochen haben, dass die Hausmedizin des deutschen Idealismus ein eher untaugliches Heilmittel ist.
Martha Nussbaum: »Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit«. Aus dem Englischen von Axel Walter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, 408 S., 39,95 €