Fiktion

Vergessenes Schtetl

Max Gross holt das Bashevis-Singer-Gefühl ins Heute. Foto: PR

Fiktion

Vergessenes Schtetl

Der amerikanische Autor Max Gross stellt in seinem neuen, durch und durch jüdischen Buch Geschichte auf den Kopf

von Sophie Albers Ben Chamo  04.02.2021 09:26 Uhr

Immerhin: Dank Corona lesen die Menschen mehr Bücher. Manche entdecken sogar die eigene Bibliothek wieder. So zum Beispiel mein Onkel in Großbritannien, der mir in letzter Zeit immer wieder die großartigen Schlussakkorde der Kurzgeschichten von Isaac Bashevis Singer schickt.

Nur das Ende, versteht sich, sodass ich mir die Anfänge und Mittelteile selbst zusammensuchen muss. Keiner schreibt wie Bashevis Singer, sagt mein Onkel und lobpreist dieses Gefühl, von einem Text im selben Moment amüsiert, überrascht, traurig oder auch erregt zu sein. Emotionale Geister- und Achterbahn in einem, sozusagen.

Gefühl Nun endlich kann ich meinem Onkel mit einem ganzen Buch meiner Generation antworten! Denn der Debütroman des New Yorker Journalisten und Schriftstellers Max Gross holt das Bashevis-Singer-Gefühl ins Heute. Und das natürlich mit einer sehr tiefen Verbeugung vor dem Meister.

The Lost Shtetl erzählt von einem jüdischen Städtchen, das in einem undurchdringlichen Wald in Polen aufgrund einer ganzen Reihe mal unglaublicher, mal profaner Zufälle völlig unbeschadet das 20. Jahrhundert überlebt hat. Die Bewohner von Kreskol, so der Name des magischen Ortes, leben so einfach und traditionell wie ihre Vorfahren vor 120 Jahren, ohne Elektrizität und fließend Wasser. Sie wissen weder etwas von der Schoa noch von der Gründung des Staates Israel und auch nichts von Flugzeugen oder Internet.

Bis, in der Jetztzeit, ein weiterer Zufall dazu führt, dass es plötzlich doch zum Kontakt mit der Außenwelt und zur Entdeckung des Schtetls kommt, und der arme Waise Yankel – in den Wald geschickt, um auf der anderen Seite Hilfe zu holen – landet dort sofort in der Psychiatrie, so unbegreiflich ist das Auftauchen dieses unmöglichen Relikts aus einer vernichteten Zeit.

Pointe Als ihm erstaunlich sensibel beigebracht werden soll, was mit allen anderen Schtetlech passiert ist, fühlt er sich für dumm verkauft. Und das ist erst der Anfang. »›Aber wie können denn alle Juden ermordet worden sein?‹, antwortete Yankel. ›Es müssen doch Hunderttausende gewesen sein.‹ ›Es waren Millionen‹, sagte Fischbein. ›Aber sie sind nicht mehr.‹ ›Was ist mit den Juden von Krakau?‹ ›Alle ermordet.‹ ›Warschau?‹ ›Ermordet.‹ Yankel starrte Fischbein ins Gesicht, darauf wartend, dass dieser anfangen würde zu lachen. Und er fragte sich, ob er mitspielen sollte, wie ein Schauspieler, der auf die Pointe wartet.«

Forsch und wehmütig, brutal und zärtlich zugleich dekliniert Gross die Möglichkeiten der Reaktionen durch. Auf beiden Seiten. Die Medien, die Politik und die alten Ressentiments angesichts des Alten auf der einen, die Begeisterung und die Skepsis gegenüber dem Neuen auf der anderen Seite. Und das alles erzählt von einer irgendwie doch so vertrauten Stimme, die sowohl aus dem Schtetl als auch der modernen Welt zu kommen scheint.

Selbsterkenntnis Sein »jiddisches Brigadoon« nennt es der 41-jährige Autor, der seine Figuren auf eine Tour de Force der Selbsterkenntnis schickt – vom großherzigen Rabbi, der weiß, wo das alles hinführt, aber doch nichts tun kann, über die gefallene Tochter, die versucht, sich selbst aufzuheben, bis zum besagten Yankel, der schließlich endlich die Antwort finden darf auf die Frage, wo er eigentlich hingehört. Ich bringe dann mal das Buch zur Post!

Max Gross: »The Lost Shtetl«. HarperVia, New York 2020, 416 S., 28 €

Award

Sarah Jessica Parker erhält Golden-Globe-Ehrenpreis

Die Schauspielerin soll für besondere Verdienste um das Fernsehen ausgezeichnet werden

 14.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  14.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025