Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Seit 2013 im House of Lords: Daniel Finkelstein Foto: Jack Hill/The Times

Um es gleich zu sagen: Dies ist eine großartige, eine grandiose Familienhistorie! Und vielleicht eines der besten Memoirs der letzten Jahre. Denn Daniel Finkelstein (61), Journalist und politischer Kommentator in London, hat nicht nur etwas zu sagen. Er hat noch mehr zu schreiben und mitzuteilen über seine weit verzweigte Familie mütterlicher- wie väterlicherseits.

Der mit Verfolgung, Blut und Tod getränkte Erzählfaden spannt sich über ganz Europa. Er führt einerseits von Berlin und Lwów (Lemberg) über Starobelsk und der Sowchose Baskermelte nahe des Asowschen Meers bis ins sibirische Semipalatinsk und von dort nach Teheran, Tel Aviv und New York. Andererseits von Berlin nach Westerbork und Bergen-Belsen, nach Marseille und New York.

Die Linien kreuzen und vereinen sich schließlich in London, in Hendon Central, dem Distrikt im Nordwesten der Stadt, und am Russell Square in Bloomsbury, nahe des British Museum. Dort ist die Wiener Holocaust Library beheimatet, die einst Finkelsteins Großvater Alfred Wiener ins Leben rief und die er fast vier Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1964 betreute. Die Dokumentationen dieser Einrichtung spielten vor 60 Jahren beim Frankfurter Auschwitz-Prozess eine wichtige Rolle.

Der mit Verfolgung, Blut und Tod getränkte Erzählfaden spannt sich über ganz Europa.

Wiener war Syndikus des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und floh bereits 1934 nach Amsterdam, London und New York, weil er sich sehr früh der nazistischen Gewalt bewusst war, die er schon ein Jahrzehnt lang dokumentiert hatte.

Von ihm, dem hochgebildeten kämpferischen Intellektuellen, erzählt Finkelstein ebenso einfühlsam und mitreißend wie von seiner Frau und den drei Töchtern (die jüngste sollte Finkelsteins Mutter werden), die über das Lager Westerbork in Konzentrationslager verschleppt wurden und Bergen-Belsen wie durch ein Wunder überlebten. Grete, die Mutter, starb an ihrem ersten Tag in Freiheit in der Schweiz.

1939 wurde die Familie aller Häuser und Güter beraubt und später von den Sowjets deportiert

Auf der anderen Seite steht jener Teil der Familie Finkelstein, der nach 1918 im damals polnischen Lemberg ein Eisen- und Stahlwerk betrieb und reich war. 1939 wurde die Familie aller Häuser und Güter beraubt und später von den Sowjets deportiert. Dolu Finkelstein überlebte die harte Zwangsarbeit in einem Straflager mit knapper Not. Seine Frau und Sohn Ludwik (Daniel Finkelsteins Vater) wurden in eine asiatische Region verbracht, hungerten und erfroren fast.

Zum Glück wurde Dolu in die sogenannte Anders-Armee eingezogen, ein Heer deportierter Polen, das 1944 unter britischem Oberbefehl gegen Hitler kämpfte. Dort konnte Dolu sein Beschaffungs- und Organisationstalent unter Beweis stellen. Die Finkelsteins gelangten über den Iran nach Tel Aviv und konnten letztlich in England Fuß fassen. Dolu erlag nur wenige Jahre danach den Strapazen, die er hatte durchmachen müssen. Doch die Familie konnte sich neu orientieren.

Daniel Finkelstein ist heute Baron und Officer of the Order of the British Empire. Er gab Großbritanniens erste Online-Zeitung heraus, war Direktor eines Thinktanks und schreibt seit mehr als 20 Jahren für die konservative Londoner »Times«. Auch für den »Jewish Chronicle«, die seit 1841 existierende älteste jüdische Zeitung überhaupt, verfasst er eine Kolumne. Am Ende ist sein überaus gut lesbares, nicht genug zu preisendes Buch eine eindringliche Warnung vor allen Totalitarismen gleich welcher Couleur und politischer Ausrichtung.

Daniel Finkelstein: »Hitler, Stalin, meine Eltern & ich. Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte«. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 512 S., 28 €

Interview

»Die Zeit der Exzesse ist vorbei«

In ihrem neuen Buch »Glamour« setzt sich die Berliner Autorin Ute Cohen mit Schönheit und Eleganz auseinander. Dabei spielt auch Magie eine Rolle - und der Mut, sich selbst in einer »Zwischenwelt« inszenieren zu wollen

von Stefan Meetschen  17.12.2025 Aktualisiert

Potsdam

Kontroverse um Anne-Frank-Bild mit Kufiya

Ein Porträt von Anne Frank mit Palästinensertuch in einem Potsdamer Museum entfacht Streit. Während Kritiker darin antisemitische Tendenzen sehen, verteidigt das Museum das Bild. Die Hintergründe

von Monika Wendel  17.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  17.12.2025

Nachruf

Albtraum in der Traumfabrik

Eine Familientragödie hat den Hollywood-Riesen und seine Frau aus dem Leben gerissen. An Rob Reiners Filmen voller Menschenliebe wie »Harry und Sally« ist eine ganze Generation mitgewachsen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.12.2025

Theater

Die Krise des Schlemihl

»Sabotage« von Yael Ronen ist ein witziger Abend über einen Juden, der sich ständig für den Gaza-Krieg rechtfertigen muss

von Stephen Tree  17.12.2025

Forum

Leserbriefe

Kommentare und Meinungen zu aktuellen Themen der Jüdischen Allgemeinen

 17.12.2025

Zahl der Woche

30 Minuten

Fun Facts und Wissenswertes

 17.12.2025

Musik

Großes Konzert: Xavier Naidoo startete Tournee

Die Synagogen-Gemeinde Köln kritisiert: »Gerade in einer Zeit zunehmender antisemitischer Vorfälle ist es problematisch, Herrn Naidoo eine Bühne zu bieten«

 17.12.2025

"Imanuels Interpreten" (16)

Ethel Lindsey: Queer und funky

Die Französin mit israelischen Wurzeln bringt mit ihrem Debütalbum die 70er-Jahre zurück

von Imanuel Marcus  18.12.2025 Aktualisiert