Rezension

Über die Sphinx der Weltliteratur

Im Kafka-Jahr sind neue Biografien und eine kommentierte Ausgabe von »Der Process« erschienen

von Alexander Kluy  02.06.2024 11:45 Uhr

Franz Kafka (um 1905) Foto: picture-alliance / brandstaetter images/NB

Im Kafka-Jahr sind neue Biografien und eine kommentierte Ausgabe von »Der Process« erschienen

von Alexander Kluy  02.06.2024 11:45 Uhr

Kafka? Franz Kafka? Kennt man. Zur Genüge. Fast bis zum kafkaesken Überdruss. Wurden doch in den vergangenen 100 Jahren von der Literaturwissenschaft im Werk des Pragers psychoanalytische Holzwege ebenso abgeschritten wie kryptotheologische Schnörkel vermutet. Seine Prosa wurde mal existenzphilosophisch ausgedeutet, mal auf kabbalistische Einschlüsse hin abgeklopft. Inzwischen hat sich dafür der Begriff »Kafka-Industrie« eingebürgert.

Vor allem das Gesicht des Autors kennt man. Und zwar in erster Linie so, wie es auf einer der letzten Aufnahmen von ihm zu sehen ist, entstanden im Oktober 1923 im Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz in Berlin. Scharf konturierte Gesichtszüge, dicht anliegender schwarzer Haarschopf, ein starrer, auf einen Punkt im Nirgendwo fixierter Blick, ein beinahe bedrückter, ja ein schier Sphinx-gleicher Ernst. Es ist ein ikonisches Bild der Literaturgeschichte.

Der Verleger Klaus Wagenbach bezeichnete sich ironisch als eine der letzten »Kafka-Witwen«.

Dieses Seriöse, Unerbittliche und Harte, das Depressive, Dunkle, scheinbar aufs Jenseits Ausgerichtete und ganz offenbar Heillose, weil faktisch vom Tod Überschattete – Kafka starb ein halbes Jahr später, am 3. Juni 1924 –, alles genauso zu finden in seinen Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Erzählungen, Romanen.

In ihnen wird vergeblich vor Türen ausgeharrt. In ihnen werden Gänge immer schmaler, und Schlösser bergen unaufschließbar dunkle Geheimnisse. In ihnen wird verzweifelt und gescheitert. Oder es erschallt als Zeitauskunft ein rätselhaftes »Zu spät«. Enigmatische Bürokratenschergen holen Josef K. ab, ohne dass dieser weiß, wieso. Extrem skrupulöse Selbstbewertung bricht sich Bahn.

Faszinierende Gestalt im Badeanzug

Ist er aber im gelebten Leben auch so gewesen? Oder war Dr. jur. Franz Kafka nicht auch jener Mann, dessen schlanker Körperbau, dunkler Teint, sanfte Manieren und Höflichkeit Mitte Juli 1914 eine 16-Jährige namens Tile Rössler in Bann schlugen? »Wenn er im Badeanzug dasaß«, so Rössler viele Jahre später noch immer fasziniert, »konnte ich meine Augen nicht von seiner Gestalt lassen. Besonders schön fand ich die unendlich langen zarten Fußzehen, die eigentlich so charaktervoll aussahen wie Hände. Als ob diese Zehen zumindest Klavierspielen könnten.«

In Kafkas Familie, einem »Fotoalbum«, ediert von dem Kafka-Experten Hans-Gerd Koch und erschienen im Verlag Klaus Wagenbach – dieser Verleger und Kafka-Aficionado bezeichnete sich ja selbst ironisch als eine der letzten »Kafka-Witwen« –, sieht man zwar keine Zehen, aber das Familien- und Verwandtschaftsgeflecht wird informativ aufgeblättert. Es sind Schnappschüsse, Aufnahmen von Reisen, Kuraufenthalten, Ausflügen, Badefreuden, alltägliche Szenen.

Spannend sind die durch Briefzitate und Sätze knapp angerissenen Biografien der Menschen, die Kafka kannte, die ihn kannten, mit denen er verkehrte, verwandt und verschwägert war, mit denen er trank oder in Urlaub fuhr. Häufig enden diese Lebensläufe in den 40er-Jahren. Und sie enden mit dem Hinweis: verhaftet, verschleppt, deportiert, ermordet. So wie Kafkas Schwestern Ottla, in Auschwitz vergast, Elli und Valli, die in Chelmno getötet wurden. Oder wie die elegante, modische Julie Wohryzek, in die sich Kafka 1918 verliebt hatte und die in Auschwitz starb.

Fred Bérence wies auf das klassische Dilemma hin. »Keine Fotografie von ihm«, so der Schweizer Autor, der um sechs Jahre jünger als der Prager war, »kann den bescheidenen Charme dieses Mannes wiedergeben. Er war groß, gut gewachsen, sehr dunkelhaarig, äußerst gut gekleidet; er machte einen sportlichen Eindruck. Ich erinnere mich an zwei dunkle Augen, die aus einem blassen Antlitz derartig leuchteten, dass ich darin goldene Flitter tanzen zu sehen glaubte.« Bei Kafkas Leipzig-Aufenthalt im Sommer 1912 war allerdings kein Flittertanz angesagt.

Der Biertrinker war gastronomisch ernüchtert bis verdrossen

Der Biertrinker Kafka war stattdessen gastronomisch ernüchtert bis verdrossen: »Café Français (das Kaffeehaus Ecke Augustusplatz und Grimmaische Straße), wo wir klägliche Limonade trinken, schlechten Thee.« Noch kläglicher ging es ihm im Deutschen Buchgewerbehaus. Nach dem Besuch der darin untergebrachten königlich-sächsischen bibliografischen Sammlung konnte er, offensichtlich entkräftet, nur noch einen grammatikalisch unvollständigen Satz in sein Tagebuch eintragen: »Kann mich vor den vielen Büchern nicht halten.«

Ist dies ein Kafka-Satz, den Reiner Stach auswendig kann? Wahrscheinlich. Immerhin brach er, 1951 geboren, einst sein Studium der Mathematik ab – nachdem er eingehend Kafkas Briefe und Tagebücher gelesen hatte. Danach sattelte er auf Germanistik um, wurde über Kafka promoviert und hat, mit Ausnahme von vier Jahren als Verlagslektor, sein Leben zur Gänze dem Prager Dichter gewidmet. Davon zeugt seine dreibändige, atemberaubende 2000 Druckseiten zählende Biografie. Er war auch, so wie Koch, an der Kritischen Ausgabe des Autors beteiligt.

Reiner Stachs kommentierte Ausgabe von »Der Process« ist instruktiv und präzise.

Vor fast 100 Jahren, Anfang 1926, war Kurt Tucholsky mehr als überrascht – er war erschüttert, und das passierte ihm selten. Auslöser war: ein Buch, Kafkas Der Process, das damals als Prozeß im literarisch exquisiten Verlag Die Schmiede erschien, in dem auch Joseph Roth mehrere Romane herausbrachte und Alfred Döblin publizierte, zu dessen Stammautoren der Surrealist und jüdische Elsässer Yvan Goll zählte, der Dramatiker und Feuilletonist Walter Hasenclever und Egon Erwin Kisch; 1927 sollte in diesem Verlag Tucholskys Pyrenäenbuch erscheinen.

Die Rezension schloss mit einer seherischen Vision, die sich erfüllen sollte. Tucholskys Verdikt lautete: »Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher. Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre dieser in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang. Wir dürfen lesen, staunen, danken.«

Das lässt sich nun mit der ersten kommentierten Ausgabe dieses Romans unternehmen. Der gut gedruckte Band hat ein angenehmes Format und liegt gut in der Hand, der Anmerkungsteil umfasst knapp 90 Seiten und ist instruktiv, präzise und niemals überbordend, wie man dies aus anderen Klassiker-Werkausgaben kennt. Stach erklärt auch überzeugend, wieso er dramaturgisch zwei Kapitel umstellte. Im Mittelpunkt steht aber die strahlende, reine, durchsichtig verrätselte Prosa, die man liest und bestaunt.

Ebendies, lesen, staunen, danken, unternimmt auch Rüdiger Safranski. Er ist Autor überaus erfolgreicher wie gern gelesener und gut aufgenommener Einzel- und Gruppenbiografien, über E. T. A. Hoffmann, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger, über Goethe, Schiller, Hölderlin und die Romantik.

Was Safranski nun mit Kafka. Um sein Leben schreiben vorlegt, ist, wie er gleich zu Beginn anmerkt, dezidiert keine Lebensbeschreibung. Das wäre nach Stach, bei dem die sacht maliziöse Bemerkung »Der Biograf kennt das Leben des Porträtierten besser als der Porträtierte selbst« faktisch zutrifft, ein recht überflüssiges, intellektuell gänzlich vergebliches Unterfangen.

Rüdiger Safranskis neues Buch führt eingängig und klug in Kafkas Schreiben ein.

Stattdessen ist Safranskis roter Faden Kafkas »Schreiben selbst und sein Kampf darum«. Es geht also, punktuell auf biografische Stationen zurückgreifend, um den kreativen Prozess und dessen vielgestaltige Ambivalenzen, die sich nicht selten mit dem Leben verkanteten. So wurde aus einer aufgelösten Verlobungsverbindung große Schreibkunst. Safranski zitiert Kafkas Diktum, er bestehe ganz aus »Literatur«. Dieses Spannungsverhältnis von Welt-Leben und Welt via Sprache erfinden verfolgt Safranski durch das gesamte Œuvre hindurch, bis zum Ende, als sich der todkranke Kafka erstmals beim Schreiben zusehen ließ.

Im April 1917 erhielt Kafka Post eines Nationalökonomen und Soldaten

Das ist eine lesenswerte wie lesbare, durchweg verständliche, eingängige und kluge Einführung, die hie und da etwas nachlässig Korrektur gelesen wurde. Sind doch die Fragen, wenn man Kafkas Prosa liest, immer wieder sehr ähnlich, auch wenn man Kafka immer wieder liest. Das erfuhr der Prager selbst. Denn im April 1917 erhielt er einen Brief. Absender war ein gewisser Siegfried Wolff, promovierter Nationalökonom und Soldat. Aus Berlin-Charlottenburg schrieb er nach Prag – und bat um Aufklärung, um endlich eine Familienkrise auflösen zu können.

»Sehr geehrter Herr, Sie haben mich unglücklich gemacht«, begann das Schreiben. »Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären. Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben, und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben«, weil »ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos. Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht«.

Ob Kafka dem um seine Reputation Bangenden half, ist nicht klar. Sicher ist aber eines: Als Wolff ein halbes Jahrhundert später starb, war der Jude aus Prag der einzige Autor der Weltliteratur, aus dessen Name ein gängiges Adjektiv abgeleitet wurde, das auch die benutzen, die ihn kaum oder noch nicht gelesen haben: kafkaesk.

Frank Kafka: »Der Process. Kommentierte Ausgabe«. Herausgegeben von Reiner Stach. Wallstein, Göttingen 2024, 400 S., 34 €

»Kafkas Familie. Ein Fotoalbum«. Zusammengestellt und mit einer Einleitung von Hans-Gerd Koch. Wagenbach, Berlin 2024, 208 S., mit 100 Abb., 38 €

Rüdiger Safranski: »Kafka. Um sein Leben schreiben«. Hanser, München 2024, 256 S., 26 €

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