»Euthanasie«-Morde

Tatort Tiergartenstraße 4

Die einzige von Hitler je persönlich unterzeichnete Anweisung zur Menschenvernichtung wurde nachträglich von Oktober 1939 auf den 1. September 1939 rückdatiert – den Tag, an dem Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg begann. Es war die sogenannte Euthanasie-Ermächtigung zur Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen.

»Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann«, schrieb Hitler. Bereits im September 1939 wurden die ersten Kranken im besetzten Polen ermordet; im Oktober 1939 fand die erste »Probevergasung« von Psychiatriepatienten im Konzentrationslager Posen im Fort VII statt.

TRANSPORTE Der Historiker Robert Parzer betreut die Website »Gedenkort T4« und promoviert über die Morde an Patienten im besetzen Polen. »Das war eine Initiative der lokalen Machthaber«, sagte er der Jüdischen Allgemeinen. Parzer glaubt, dass man in Berlin aus lokalen Mordprogrammen »lernte«.

Ab 1940 wurden Patienten und Behinderte auch in Deutschland vergast. Geplant wurde der Massenmord in Krankenhäusern und Anstalten durch die im April 1940 speziell eingerichtete Zentraldienststelle T4 in der Berliner Tiergartenstraße 4. Sie organisierte die Transporte in sechs Gasmordanstalten im Deutschen Reich. Unter »T4« wurden rund 70.000 Menschen ermordet, insgesamt im Rahmen der Krankenmorde bis 1945 in Deutschland und im deutsch besetzen Europa etwa 300.000 Menschen.

Ein großer Teil des T4-Personals war später auch an Massenmorden an Juden beteiligt.

Proteste von kirchlicher Seite beendeten die offizielle »T4«-Aktion 1941 (dezentral wurden die Morde an Kranken aber fortgesetzt). Ein großer Teil des frei werdenden »T4«-Personals war zudem im Rahmen der »Aktion Reinhardt« an den Massenmorden an etwa 1,8 Millionen europäischen Juden in den deutschen Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka in Polen beteiligt. Franz Stangl zum Beispiel, stellvertretender Büroleiter in den Tötungsanstalten Hartheim und Bernburg, wurde später Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka.

VORGESCHICHTE Die Villa in der Tiergartenstraße 4 wurde 1945 von der Roten Armee beschossen und 1950 gesprengt. An dieser Stelle wurde am 2. September 2014 ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der »Euthanasie«-Morde eingerichtet.

Am Freitag fand in der benachbarten Philharmonie ein Festakt der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Topographie des Terrors, des Förderkreises Gedenkort T4 und der Lebenshilfe statt. Anschließend ging es in mehreren Foren um die Geschichte der »Euthanasie« und den heutigen Umgang mit Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Die Festrede hielt der Münchner Psychiater Michael von Cranach, der im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren mit der Aufarbeitung der Beteiligung an der »Aktion T4« begann. Jahrzehntelang seien den Angehörigen der Opfer Informationen verweigert worden, sagte von Cranach der Jüdischen Allgemeinen.

Gedenken Wichtig sei zentrales, aber auch dezentrales Gedenken, etwa am 18. Januar, weil an diesem Tag im Jahr 1940 die erste Deportation der Gasmordaktion »T4« in Deutschland von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München in eine Tötungsanstalt stattfand.

Die »Euthanasie«-Morde hätten eine lange Vorgeschichte, betonte von Cranach. Bereits 1920 hatten Psychiater in der Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens die Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen gefordert. »Die Nazis haben nur die Türen geöffnet für etwas, was vorher gedacht wurde, aber nicht hätte realisiert werden können.«

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Sderot

Zweitägiges iranisches Filmfestival beginnt in Israel

Trotz politischer Spannungen will das Event einen Dialog zwischen Israelis und Iranern anstoßen

von Sara Lemel  24.11.2025

Genetik

Liegt es in der Familie?

Eierstockkrebs ist schwer zu erkennen. Warum ein Blick auf den Stammbaum nützen kann

von Nicole Dreyfus  23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Ayala Goldmann  23.11.2025