Film

Star aus Sterdyn

Eine Dokumentation porträtiert Belina als »Friedenssängerin« – doch war sie das wirklich?

von Ayala Goldmann  23.06.2022 08:42 Uhr

»A yiddishe mame«: die Sängerin Belina in einer Filmaufnahme Foto: pr

Eine Dokumentation porträtiert Belina als »Friedenssängerin« – doch war sie das wirklich?

von Ayala Goldmann  23.06.2022 08:42 Uhr

Sie war ein Star der 60er- und 70er-Jahre: Ihre Schallplatte 24 Songs and One Guitar (1963 mit dem Gitarristen Siegfried Behrend) hielt sich mehr als 40 Wochen in der Hitparade der Bundesrepublik Deutschland. Heute ist die polnisch-jüdische Folk-und Chansonsängerin Belina fast vergessen. Es ist das Verdienst des Filmregisseurs Marc Boettcher, sie auf die Leinwand zu bringen – wenn auch bisher »nur« bei Filmfestivals und Einzelvorführungen. Zuletzt wurde die Dokumentation Belina – Music for Peace beim Jüdischen Filmfestvial Berlin Brandenburg (JFBB) gezeigt.

»Sag mir, wo die Blumen sind« – Belinas dunkle, volle, emotionale Stimme und ihre zarte Gestalt faszinieren bereits in der ersten Szene des Films, die aus dem Jahr 1963 stammt. »Sag, wo die Soldaten sind …« ist die deutsche Version des Antikriegslieds von Pete Seeger »Where Have All The Flowers Gone«. Eine Szene, die während des Ukraine-Kriegs eine wohl noch stärkere Wirkung entfaltet. »Die Botschaft des Films ist das Friedensthema, Annäherung und Versöhnung zwischen Jüdinnen und Juden, Deutschen und anderen Nationen«, ist Regisseur Marc Boettcher überzeugt.

ANLIEGEN Um sein Anliegen zu untermauern, kommen im Film zahlreiche Sängerinnen und Musiker zu Wort wie Nana Mouskouri, Jocelyn B. Smith, Joana (Johanna Emetz), Giora Feidman, außerdem die Journalistin und Fotografin Sharon Adler – viele nicht nur mit Kommentaren zu Belinas Geschichte, sondern auch mit Song-Einlagen. »Ich wollte junge Leute auf die Spur von Belina führen und habe dafür auch jüngere Sängerinnen wie Sharon Brauner und Alexandra Marisa Wilcke interviewt, um dem Thema mehr Modernität zu verleihen«, erklärt Boettcher. »Eine reine Doku – wie im Fernsehen mit Kommentar – wäre schwer bei Filmfestivals unterzubringen. So erzählt Belina im Film selbst ihre Geschichte.«

Die Geschichte, über die Belina jedoch nie gesprochen hat, illustriert der Regisseur mit grausam-kolorierten Bildern aus dem Warschauer Ghetto und Kriegsszenen mit zu lauter Tonspur. Als Lea-Nina Rodzynek kam Belina 1925 im polnischen Dorf Sterdyn zur Welt. Ihre Mutter wurde 1941 während der NS-Besatzung in Polen beim Versuch, sich einer »Umsiedlungsaktion« zu entziehen, erschossen. Die 15-jährige Lea-Nina floh mit ihrer Familie in die Wälder und versteckte sich in Höhlen, doch ihr Vater und drei Brüder wurden entdeckt und wenig später in Treblinka ermordet

Die junge Frau überlebte den Krieg mit falschen Papieren als Zwangsarbeiterin in Deutschland. 1949 heiratete sie unter der Chuppa einen Überlebenden des KZ Auschwitz und bekam ihr einziges Kind, doch die Ehe hielt nicht. Belina zog nach Paris und wurde als Sängerin in einem Lokal entdeckt. Sie nahm zwei EPs (Mini-Alben) mit jiddischen Liedern auf und kehrte schließlich 1960 nach Deutschland zurück, nachdem sie in einem Zug zufällig einen Musikproduzenten kennengelernt hatte, der ihr einen Schallplattenvertrag versprach.

FRAGE »Das Interessante ist, ich habe nie eine Antwort auf meine Frage bekommen, wie man nach diesen Erlebnissen in Deutschland bleiben konnte. Ich habe früh gemerkt, dass das ein sehr empfindliches Thema ist. Und weder meine Mutter noch mein Vater, der in Auschwitz war, wollten darüber sprechen. Heute habe ich für mich eine Antwort gefunden, warum: Weil sie die Frage gar nicht beantworten konnten«, sagt der Hamburger Journalist Michael Rodzynek, Belinas Sohn, der – wie auch ihre mittlerweile verstorbene Cousine aus Paris – im Film zu Wort kommt.

»Meine Mutter war eine stolze Jüdin, sie war sehr stark mit ihrer Herkunft verbunden. Sie war sehr selbstbewusst, und sie hatte auch keine Angst, Jüdischkeit in Form von Musik zu präsentieren«, erinnert sich Michael Rodzynek. Belina selbst formulierte es so: »Ich wollte gerade mit dem jiddischen Repertoire der deutschen Jugend zeigen, dass es auch eine jiddische Kultur gibt, und zwar eine sehr alte, eine uralte.« Vor deutschen Jugendlichen sang sie Lieder aus dem Ghetto – und hatte keinerlei Scheu vor der Reaktion des Publikums.

»Meine Mutter wollte keine Schlager und keine Schnulzen singen.«

Michael Rodzynek

Eine Aufnahme aus dem Jahr 1960 zeigt Belina in einem Tonstudio, von testosterongesteuerten Regisseuren und Tontechnikern respektlos behandelt und als Sängerin »aus dem Milieu in Paris« eingeführt – eine Frau, die Männer allein durch ihre Mimik auf Distanz halten konnte.
Privat blieb sie unabhängig, wollte sich nicht binden. Mit dem Gitarristen Siegfried Behrend bereiste Belina als »musikalische Diplomatin« 1965 im Auftrag des Goethe-Instituts die halbe Welt. Das erfolgreiche Folk-Duo trat bis Anfang der 70er-Jahre gemeinsam auf und brachte zahlreiche LPs heraus. Nach der Heirat Behrends mit der Schauspielerin Claudia Brodzinski kam das Aus. Ohnehin waren nicht mehr Belina & Behrend gefragt, sondern Esther und Abi Ofarim.

Ihr Sohn sagt: »Meine Mutter ist nie mit ihrer Musik reich geworden. Sie war nicht bereit, kommerzielle Musik zu machen, um mehr Geld zu verdienen. Sie hat Kunst gemacht, sie wollte keine Schlager und keine Schnulzen singen.« Eine chronische Bronchitis, die sie sich in ihrer Jugend zugezogen hatte, machte Belina ebenfalls zunehmend zu schaffen.

Er habe seiner Mutter nie angekreidet, dass er als Kind bei Verwandten und zum Teil auch in Internaten aufwuchs, bekennt Journalist Rodzynek: »Sie war so ein Engel. Sie war so lieb, und ich habe sie immer dafür bewundert, was sie als Künstlerin gemacht hat. Sie war genau das, was man unter einer jüdischen Mutter versteht.«

TV-SENDEPLATZ Bisher hat der 94 Minuten lange Film Belina – Music for Peace trotz der faszinierenden Lebensgeschichte und des großen Talents seiner Protagonistin keinen TV-Sendeplatz gefunden. »Es gibt zu viele Statements von zu vielen Personen. Man sollte den Film etwas schlanker, etwas kürzer machen, dann wird er sicherlich überzeugender«, meint Rodzynek. »Für das Fernsehen könnte man natürlich kräftig kürzen, doch dann würden einige kultur- und zeitgeschichtliche Bezüge stark eingeschränkt werden«, gibt Regisseur Boettcher zu bedenken.

Aber stimmen die Bezüge, war Belina eine »Friedenssängerin«? Man könne »nicht aufgrund der Tatsache, dass ein Mensch Musik in vielen Sprachen singt, sagen, sie ist eine Friedensstifterin. Dazu hätte man mit ihr selbst über politische Fragen sprechen müssen, was für diesen Film aber nicht mehr möglich war«, sagt Michael Rodzynek. Belina starb 2006.

Im Film habe man, so sieht es der Sohn, »das Gefühl, dass sie wie eine Friedenstaube durch die Gegend fliegt. Das war meine Mutter nicht. Das Wort ›Frieden‹ gehörte gar nicht zu ihrem Sprachschatz, so haben wir nie gesprochen. Sie war sehr liberal und hatte ein ungeheures Faible für andere Völker, sie hatte dieses Interesse für andere Kulturen, für Menschen anderen Glaubens. Aber meine Mutter hat auch Ariel Scharon bewundert, und zwar für seinen bedingungslosen Patriotismus – trotz aller berechtigten Kritik an ihm«.

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