documenta

Späte Flucht nach vorn

Da sprach sie noch begeistert von der documenta, obwohl es bereits monatelang Warnungen gegeben hatte: Claudia Roth bei der documenta-Eröffnung Foto: picture alliance/dpa

Nach den Antisemitismus-Skandalen auf der documenta in Kassel will Kulturstaatsministerin Claudia Roth Möglichkeiten staatlichen Handelns ausloten.

»Ich möchte eine Klärung über die Fragen: Was heißt eigentlich Kunstfreiheit? Wo sind die Grenzen? Was ist kuratorische Verantwortung? Wo hat sich der Staat gefälligst rauszuhalten? Also wo ist die Grenze staatlicher Einflussnahme? Wo ist es in unserer Demokratie eindeutig geregelt?«, sagte Roth der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Gutachten Aktuell werde dazu ein Gutachten in ihrem Haus ausgewertet. Auf der Basis will die Grünen-Politikerin mögliche Konsequenzen ziehen. Nach Informationen der ZEIT wurde das etwa 50-seitige Gutachten vom Verfassungsrechtler Christoph Möllers im Auftrag des Kulturstaatsministeriums angefertigt. Möllers war Teil der Expertenkommission, die die antisemitischen Kunstwerke auf der documenta untersuchten.

Außerdem wird ihm im Plädoyer der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« für seinen fachlichen Rat gedankt. Die Initiative richtet sich gegen einen Bundestagsbeschluss gegen die antisemitische Boykott-Bewegung BDS und wurde unter anderem vom Zentralrat der Juden aufs Schärfste kritisiert.

»Die documenta ist eine so wichtige Ausstellung«, sagte Roth. »Dass alles überschattet wurde, was in Kassel gezeigt wurde und auch wichtig war, von dieser inakzeptablen Grenzüberschreitung der antisemitischen Bildsprache, ist wirklich bedauerlich.« Das habe dann das gesamte Bild der documenta geprägt.

Die Grenze der Kunstfreiheit sei dort, »wo Artikel eins unseres Grundgesetzes berührt ist, bei Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus«, sagt Roth.

»Als Konsequenz haben wir auch eine Debatte über die Struktur der documenta. Wenn der Bund künftig dabei sein soll, dann biete ich das an«, sagte Roth. Sie habe sich an den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Landesregierung gewandt, Gespräche geführt und angeboten. »Eine weitere finanzielle Beteiligung des Bundes bedingt auch eine inhaltliche. Es muss dann auch eine Form der Mitsprachemöglichkeit geben. Wir sind gerade dabei, das zu klären.«

Sie wolle deutlich machen, welche Bedeutung Kunstfreiheit habe, aber auch, wo die Grenzen seien, »nämlich da, wo Artikel eins unseres Grundgesetzes berührt ist, bei Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus«.

Verantwortung Sie wünsche sich wieder eine vertrauensvolle Diskussion auf der Basis, dass Antisemitismus in Indonesien oder Deutschland absolut inakzeptabel sei. »Der Unterschied ist dabei, dass in Deutschland Auschwitz erfunden wurde, was eine besondere Herausforderung, eine besondere Verantwortung bedeutet«, sagte Roth. »Es ist ein wirklich tiefer, trauriger Schleier, der über dieser documenta liegt und über dem, was an Ängsten, an Verletzungen entstanden ist bei Jüdinnen und Juden und an Entsetzen bei uns allen.«

Zum Konzept des kuratierenden Kollektivs Ruangrupa aus Indonesien sagte Roth: »Es darf künftig nicht mehr so eine Art koordinierte Verantwortungslosigkeit geben, bei der plötzlich gar niemand mehr verantwortlich ist. Ein kuratorisches Konzept kann nicht sein, nicht zu kuratieren. Es braucht gerade in der Konfrontation mit Kultur aus einer ganz anderen Weltregion auch eine kuratorische Verantwortung, die den Ort, an dem ausgestellt wird, nicht ausblendet.«

KRITIK Es müsse möglich sein, dass Kunst nicht gefalle. »Die muss nicht gefallen«, sagte Roth, »aber die Grenze ist da, wo sie mit Antisemitismus die Kunstfreiheit überschreitet.«

Für ihre Rolle vor und während der documenta stand Claudia Roth selbst massiv in der Kritik. Ihr wurde vorgeworfen, in ihrer Funktion der Kulturstaatsministerin nicht genug getan zu haben, um die Zurschaustellung antisemitischer Werke zu verhindern. Frühzeitige Kritik habe sie nicht ausreichend ernst genommen. dpa/ja

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