Hugo Lindenberg

Sommer der Ambivalenz

Wurde 1978 in Paris geboren, wo er auch heute noch lebt: Hugo Lindenberg Foto: Alexander Guirkinger

Wellen, Sonne und Wind: Ein Sommer an der französischen Normandie-Küste und ein Roman, der wie ein Éric-Rohmer-Film beginnt. Die Kamera, will heißen, das Auge des Ich-Erzählers in Hugo Lindenbergs mehrfach ausgezeichnetem literarischen Debüt Eines Tages wird es leer sein, folgt einem zehnjährigen Jungen, der hier in den 80er-Jahren zusammen mit seiner geliebten Großmutter Urlaub macht.

Er betrachtet Sandspuren, blinzelt gen Himmel oder versenkt sich in die Betrachtung von seltsamen Wesen, Quallen genannt. Es ist ein »ennui« (das deutsche Wort »Langweile« wäre dafür viel zu grob) der heiter-melancholischen Art, ein Verstreichen der Zeit im Blick eines mutterlosen Kindes, das sensibel auf Überraschungen und Abweichungen reagiert. Denn ist es wirklich so, dass hier am Strand alle einander ähneln, in ihren Badeanzügen und Badehosen, da vorn in der Gischt oder auf Klappstühlen im Schatten von Sonnenschirmen?

AKZENT »Bevor ich zwei Schritte machen kann, schreibt der Akzent meiner Großmutter meine Fremdartigkeit für immer fest. ›Kehrt nicht zu spät zurück‹, ruft sie uns in einer Lawine klangvoll gerollter Rs hinterher.« Zwar gibt es nun bereits ein temporäres »uns«– der Junge hat eine Strandbekanntschaft mit dem gleichaltrigen Baptiste geschlossen – aber der Akzent der Großmutter verweist auf eine ungleich stärkere Bindung.


Den Enkel und die Großmutter verbindet ein unausgesprochener Schweigepakt.

Ganz behutsam führt der 1978 in Paris geborene und dort als Journalist lebende Hugo Lindenberg in diese Geschichte ein, die dann während der folgenden Urlaubstage auch mit einigen Sprüngen aufwartet. Um der Familie von Baptiste eine Freundlichkeit zu erweisen, überreicht die Großmutter nämlich eine Schüssel gehackter Geflügelleber, versetzt mit hart gekochten Eiern, Zwiebeln und Knoblauch. »Ich liebte Großmutters gehackte Leber, wie ich Großmutter liebte: nämlich zu Hause. Unter den Augen der anderen fand ich beides schrecklich beschämend … Ich stellte mir Baptiste vor, wie er abends im Kreis der Familie in der herrlichen Kolonialvilla am Tisch saß und über diese alte Hexe lachte, während die Schüssel mit der gehackten Leber unangetastet im Müll landete.«

Der Junge aber irrt sich, und als er Baptiste schließlich mitteilt, dass er Jude ist, antwortet dieser, in Strandnähe mit den Armen im Wasser rudernd, dass er noch einen weiteren jüdischen Freund habe: »Ihr habt’s gut, ich bin gar nichts.« Baptiste scheint von seiner wohlhabenden und scheinbar intakten Familie eher gelangweilt, während der jüdische Junge voller Bewunderung ist: Mutter-Vater-Kind anstatt jener seltsame Rhombus aus Großmutter, Vater, Stiefmutter und Tante.

BARMIZWA Ihm jedenfalls würde es späterhin wahrscheinlich nie gelingen, bei der Barmizwa so zufrieden dreinzuschauen wie sein Cousin David. Umso faszinierter betrachtet er, wie sein neuer Freund Baptiste beim sonntäglichen Kirchgang die Hostie vertilgt, ohne sich daran zu verschlucken. Keine brachiale Situationskomik ist das, sondern ein fortgesetztes Verwundertsein. Welches auch dann anhält, als er mit Baptiste und dessen Vater schließlich einen Ausflug zum Omaha Beach unternimmt und dort eine erste Geschichtslektion über die Landung der Alliierten in der Normandie erhält.

Zu Hause gibt es diese Schallplatte mit dem löwengesichtigen Mike Brant auf dem Cover.

Und die Großmutter, von der der Junge vorerst nur weiß, dass sie aus Lodz stammt und aus dieser Zeit eine Freundin namens Bronia hat? Jene Bronia Rosenberg aber hatte einen Sohn, der ein berühmter Sänger geworden war, ehe er Selbstmord beging. Und so erinnert sich der Junge am Strand jetzt daran, dass es zu Hause ja diese Schallplatte gibt, mit dem attraktiven Löwengesichtigen auf dem Cover: Mike Brant.

KRISE Der Junge summt die Schlagersongs und erinnert dazwischen seltsame Satzfetzen aus den Gesprächen zwischen Bronia und seiner Großmutter. Von Lagern und fast gänzlich ausgelöschten Familien ist da die Rede, dazu vom nahezu unglaublichen 70er-Jahre-Ruhm des jungen Mannes, von Konzerten in Tel Aviv und sogar in Teheran, doch schließlich auch von der tödlich endenden Krise: »›Er glaubte, dass auch er ein KZ-Häftling war, so wie ich, als ich in die Anstalt gebracht wurde.‹«

Mit großer Sorgfalt fügt Hugo Lindenberg auch diese dramatische Geschichte ein, die natürlich weit mehr ist als lediglich eine »Promi-Episode«. Unmöglich, dass der Junge seinem Freund Baptiste davon erzählt. Sogar mit der Großmutter gab es ja einen unausgesprochenen Schweigepakt; wenn der Enkel in der Nacht vor lauter Angst wieder einmal ins Bett gemacht hatte, so ist am nächsten Vormittag bereits alles wieder sauber gewaschen und trocknet auf dem Balkon der Urlaubswohnung.

Gerade deshalb aber endet dieser stille und eindringliche Roman, in dem kein einziges Wort zu viel ist, schließlich mit einer geradezu hoffnungsvollen Frage: »Werde ich heute Morgen an den Strand gehen?«

Hugo Lindenberg: »Eines Tages wird es leer sein«. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus, Hamburg 2023, 164 S., 22 €

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