Interview

»Skeptisch war ich immer«

Nathan Englander über Orthodoxie, Schoa-Angst und die Zukunft der Literatur

von Fabian Wolff  05.11.2012 17:53 Uhr

Sein großes Vorbild ist Isaac Bashevis Singer: Nathan Englander Foto: ddp

Nathan Englander über Orthodoxie, Schoa-Angst und die Zukunft der Literatur

von Fabian Wolff  05.11.2012 17:53 Uhr

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Herr Englander, Sie kommen aus einem frommen Elternhaus, mit dessen Tradition Sie gebrochen haben. Als was würden Sie sich heute bezeichnen?
Ich war immer ein Skeptiker, glaube ich, und habe es nur nicht gewusst. Ich habe schnell gemerkt, dass viele Dinge nicht simpel schwarz-weiß, sondern eigentlich grau sind. Das hat mir Angst gemacht, aber mich auch fasziniert. Ich bin orthodox erzogen und wusste ja noch nicht mal, dass es andere Optionen gibt – dass man jüdisch und nicht religiös sein kann. Das habe ich erst in Israel gemerkt.

Unterscheidet Sie das von anderen jüdischen Autoren Ihrer Generation, die ziemlich typisch amerikanisch-neurotisch-weltlich aufgewachsen sind?
Ich weiß es nicht. Jonathan Safran Foer ist sehr behütet in Washington aufgewachsen, mit Feiertagen, aber nicht koscher. Michael Chabon lebt jetzt super-amerikanisch in Berkeley und hat erst langsam angefangen, auch über Juden zu schreiben. Und Gary Shteyngart kommt aus Russland. Das sind alles radikal unterschiedliche jüdische Erfahrungen. Aber wir sind alle Schriftsteller und Männer und haben jüdische Mütter. Wir alle greifen bestimmte Ideen auf, die eigentlich fast antisemitisch sind, und entwickeln daraus Stolz: die jüdische Nase, der jüdische Nerd, jüdische Neurotiker. Und natürlich diese sehr spezielle Angst.

Um diese »Was, wenn es wieder losgeht?«-Angst geht es auch in Ihrem neuen Kurzgeschichtenband »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«. Empfinden Sie diese Angst selbst?
Ein Kritiker in England hat in einer eigentlich positiven Rezension geschrieben: »Die Idee, dass ein amerikanischer Jude Angst vor einem zweiten Holocaust hat, ist natürlich sehr weit hergeholt.« Und ich dachte: Wie very British von ihm. Hat er jemals mit einem Juden gesprochen? Vielleicht ist diese Angst lächerlich. Andererseits endete in der Geschichte des jüdischen Volkes alles entweder mit Gewalt oder Vertreibung oder beidem. Das sollte man im Hinterkopf behalten. Ich stimme Netanjahu in fast nichts zu, aber ich weiß, dass er ein starkes Bewusstsein für Geschichte hat und dass Israel gerade seiner größten Bedrohung ausgesetzt ist.

Sie klingen pessimistisch.
In Amsterdam wurde ich einmal gefragt: Was ist die Zukunft der Juden?

Was haben Sie geantwortet?
Die jüdische Welt, in der ich lebe, ist jedenfalls dynamisch und pulsierend. Ich bin zuversichtlich.

Wirklich? In einer Ihrer Geschichten spielen zwei Ehepaare das »Anne-Frank-Spiel«: Jeder Spieler muss sagen, von wem er sich im Ernstfall verstecken lassen würde.
Das Spiel hat sich meine Schwester ausgedacht. Früher haben wir das immer gespielt. Für uns war das normal. Aber eigentlich ist das sehr finster, fast schon pathologisch.

Wie reagieren Ihre Leser auf so etwas?
Bei einer Lesung in Wien war ein Mann im Publikum, der wohl geglaubt hat, er muss Anne Frank in Schutz nehmen vor mir. Er meinte, dass Österreich für dieses Buch noch nicht bereit sei. Also sagte ich zu ihm: Vielleicht stimmt das, dann rührt mich Ihre Sorge sehr. Aber ich lebe in einer anderen Welt. In New York weiß jeder meiner nichtjüdischen Freunde, wann Rosch Haschana ist. In Wien ist das sicher anders.

Wie kamen Sie auf die Idee zu der Story?
Ich habe in San Francisco an einer noblen katholischen Schule einen Vortrag gehalten. Hinterher hat mir die Bibliothekarin der Schule gesagt, dass manche Schüler gedacht hatten, dass Anne Frank eine fiktive Figur sei. Genau darüber wollte ich schreiben. Aber eigentlich ist mir die Idee in Berlin gekommen.

Wegen der deutschen Geschichte?
Ja. Die American Academy hatte mich eingeladen. Ich stand in ihrem Haus, das die ganze Geschichte der letzten hundert Jahre repräsentiert: Es gehörte erst einem jüdischen Geschäftsmann, dann einem SS-Offizier, dann den Amerikanern. Und dann liegt es auch noch am Wannsee. Eigentlich wollte ich nicht mehr über diese Dinge schreiben. Und dann war mir klar, dass diese Geschichte unendlich ist. Wenn ich über nichts anderes mehr schreibe, dann ist das auch okay. Gleichzeitig frage ich mich, wem was gehört.

Wem die Schoa gehört?
Ja! Dem Wiesenthal-Zentrum, dem Holocaustmuseum in Washington? Dem Mann in Wien, der sich aufgeregt hat? Mir, weil ich Jude bin?

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich mit Isaac Bashevis Singer identifizieren, weil er nicht über typische amerikanische Juden schrieb, sondern über eine andere Welt, die sich plötzlich öffnet. Geht es Ihnen immer noch so?
Absolut. Ich glaube, dass dieses Staunen auch Singer nicht verlassen hat. Auf Fotos hat er selbst als alter Mann noch dieses ungezogene Funkeln in den Augen. Für mich ist es ebenfalls immer noch aufregend, in der Welt zu sein.

Schreiben Sie deshalb?
Ich habe diesen fast schon mönchischen Glauben an Geschichten. Schreiben ist etwas Moralisches für mich. Wobei natürlich Leute, die schreiben, nicht moralisch sind – wir sind neurotisch und verwirrt.

Der immer wieder beschworene Tod der Literatur ist für Sie also kein Thema?
Formen sterben dann, wenn sie kein Leben mehr haben. Die Fotografie hat die Malerei nicht getötet. Und der Film hat die Fotografie nicht überflüssig gemacht. All diese Dinge sind noch lebendig. Natürlich gehen Buchverkäufe zurück. Aber heißt Erfolg etwa, die höchstmögliche Zahl von Menschen anzusprechen? Dann sollten wir uns alle nur noch auf Pornografie und Videospiele konzentrieren.

Oder pornografische Videospiele, wie in der Sitcom »30 Rock«.
Ja, genau. Damit könnte man viel Geld verdienen! Darauf sollten wir einschlagen.

Nathan Englander wurde 1970 in New York geboren und wuchs in einem orthodoxen Elternhaus auf. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Fotograf und Filmemacher. Erste
Short Stories veröffentlichte Englander in den renommierten Magazinen New Yorker und Atlantic. 2000 erschien sein Kurzgeschichtenband »Zur Linderung unerträglichen Verlangens«, 2008 der Roman »Das Ministerium für besondere Fälle« über das »Verschwindenlassen« politischer Gegner während der argentinischen Militärdiktatur in den 70er-Jahren.
Das Gespräch führte Fabian Wolff.

Nathan Englander: »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«. Storys. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand, München 2012, 240 S., 18,99 €

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