Kino

Sigmund Freud als Briefroman

Anna und Sigmund Freud (1929) Foto: Freud Museum London

Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass sich David Tebouls Dokumentarfilm Sigmund Freud – Freud über Freud dem Psychoanalytiker über das gesprochene Wort nähert.

Freud, dem Johannes Silberschneider im Film seine Stimme leiht, erzählt einmal, wie ihn die Hypnosetechnik seines kurzzeitigen Lehrers Jean-Martin Charcot, des »Hohepriesters der Hysterie«, zunächst faszinierte, bevor er sich von ihm abwandte. Suchte Charcot im tranceartigen Rausch nach den Gründen der Hysterie, baute Freud auf das Sprechen, darauf, Patientinnen und Patienten im klaren Zustand zu freier Assoziation anzuleiten.

Diesen Ansatz übersetzt der in Frankreich geborene und in Paris lebende Film- und Theaterregisseur und Künstler konsequent in eine Art filmgewordenen Briefroman. Ganz ohne Experten-Interviews besteht sein Freud-Porträt aus gelesenen Korrespondenzen, die der Vater der Psychoanalyse selbst verfasst oder erhalten hat.

SUPER-8-AUFNAHMEN Bebildert werden die Rezitationen mit schwarz-weiß knisternden, assoziativ montierten Archivaufnahmen von Orten, die Freud, wie Teboul im Interview erzählt, »möglicherweise gesehen und aufgesucht hat«, und mit eigenen Super-8-Aufnahmen, die wie Archivmaterial behandelt werden.

Was mit den frühen Worten »Meine Eltern waren Juden, und auch ich bin Jude geblieben« seinen Anfang nimmt, zeichnet einmal mehr Leben und Werk des auch popkulturellen Evergreens nach: seine Übersiedlung in Wiens von Ostjuden, von »frommen und armen Juden« bevölkerte Leopoldstadt; seine ansozialisierte, während des Studiums ausgelebte Bibliophilie; den Einfluss von und den Bruch mit besagtem Charcot; sein Verhältnis zu seinem langjährigen, dann abgesägten Freund und Kollegen, dem Mediziner Wilhelm Fließ; seine Traum-Selbstanalyse samt Traumdeutung als »Königsweg«; seine Gedanken zum Vorbewussten, Unbewussten und Bewussten; die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft; die Vater-Sohn-ähnliche Beziehung zu Carl Gustav Jung, die dann ebenfalls in eine Rivalität umschlug – und und und.

CHRONOLOGIE In klassischer Chronologie folgt der Film dem Denker im Schatten zweier Weltkriege. Freud wird gezeichnet als Rastloser mit Skepsis gegenüber technischen Neuerungen. Da er nicht gern fotografiert wurde, erzählt Tochter Anna, habe er in dem Moment, als er die auf ihn gerichtete Kamera bemerkte, kindische Grimassen gezogen. Auch Freuds 1923 diagnostizierter Mundhöhlenkrebs, weswegen er sich bis 1938 über 30 Operationen unterziehen musste, kommt vor.

Zentral sind Tochter Anna (Stimme: Birgit Minichmayr), Lou Andreas-Salomé (Stimme: Andrea Jonasson), Freud-Schülerin und spätere Freundin der Familie mit innigem Verhältnis zu Anna und Marie Bonaparte (Stimme: Catherine Deneuve), die von der Patientin zu einer wichtigen Förderin der Psychoanalyse aufstieg. Bonaparte hat Freuds Werke ins Französische übersetzt und maßgeblich dazu beigetragen, dass ein Teil der Familie Freud nach der Okkupation Wiens durch die Nationalsozialisten nach London emigrieren konnte.

TRANSFER Durch diese drei Frauen und die private Perspektive aus den Briefen und Schriften mag Tebouls Film einen anderen Blick auf den 1856 in Freiberg in Mähren geborenen und 1939 in London verstorbenen Wissenschaftler eröffnen. Doch gelingt der Transfer von Freuds assoziativen Methoden auf das Medium Film nur bedingt.

Sigmund Freud – Freud über Freud ist ein verschwätztes Werk, ein zwar gut recherchiertes und komplexes Forschungsderivat, dem die Sprache das Kinematografische regelrecht austreibt. So aufregend die formale Umsetzung des Films auf dem Papier auch klingen mag: Was ist das für ein Kino, in dem oft willkürlich wirkende Bilder dem gesprochenen Wort kaum etwas hinzufügen? Braucht es die Leinwand in diesem Film überhaupt?

»Freud über Freud« läuft ab dem 5. Mai in den Kinos.

»Jay Kelly«

In seichten Gewässern

Die neue Tragikomödie von Noah Baumbach startet fulminant, verliert sich dann aber in Sentimentalitäten und Klischees

von Patrick Heidmann  20.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  20.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  20.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. November bis zum 27. November

 20.11.2025

»Lolita lesen in Teheran«

Klub der mutigen Frauen

Der Israeli Eran Riklis verfilmt die Erinnerungen der iranischen Schriftstellerin Azar Nafisi an geheime Literaturtreffen in Teheran – mit einem großartigen Ensemble

von Ayala Goldmann  20.11.2025

Ausstellung

Sprayende Bildhauerin mit Geometrie

Das Museum Wiesbaden zeigt Werke Louise Nevelsons und eines Künstlerpaares

von Katharina Cichosch  20.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

Magdeburg

Telemann-Preis 2026 für Kölner Dirigenten Willens

Mit der Auszeichnung würdigt die Landeshauptstadt den eindrucksvollen Umgang des jüdischen Dirigenten mit dem künstlerischen Werk Telemanns

 19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025