Kino

Sie sind überall!

Lasst uns einen Traum haben. Ein Antisemit geht ins Kino und akzeptiert es, über die Besessenheit zu lachen, die er in sich trägt. Nachdem er die witzigen Sketches von Yvan Attal angesehen hat, ist er am Ausgang des dunklen Kinosaals endlich hellsichtig geworden. Doch leider werden alle Psychiater Ihnen sagen, dass die Besessenen niemals über ihre eigene Besessenheit lachen. Aber wir sind im Kino!»

Dieser Hoffnung verlieh jüngst das französische Magazin «Marianne» Ausdruck, als es den neuen Film Ils sont partout («Sie sind überall») von Yvan Attal ankündigte, kurz bevor er in den Kinos anlief. Der 1965 in Tel Aviv geborene Sohn algerisch-jüdischer Eltern wuchs in der Pariser Vorstadt Créteil auf, und seine neueste Komödie ist die geraffte Zusammenfassung eines auf der Vorstellung jüdischer Allmacht basierenden Ressentiments. In dem Film geht es darum, in mehreren Einstellungen zu unterschiedlichen Themen (die Juden und das Geld, die Juden und die Kreuzigung Jesu ...), antijüdische Klischees durch den Kakao zu ziehen.

resonanz Nachdem in Frankreich das intellektuelle, kulturelle und politische Leben nunmehr der Sommerpause Platz macht, lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Nach wie vor läuft Ils sont partout in vielen Kinos, doch die Hochsommersaison ist traditionell eine schlechte Zeit für Filme mit ernsten Themen. Mit bis dahin rund 200.000 Zuschauern verzeichnete das Werk zwar mehr Besucher, als Filme in Frankreich im Durchschnitt aufweisen: Der Mittelwert liegt laut der Filmförderanstalt CNC bei 36.967 Besuchern. Gleichzeitig zählt er nicht zu den absoluten Kassenschlagern.

Die Grundfrage des Films lautet: Lässt sich Antisemitismus durch Humor bekämpfen? Ob Yvan Attals Werk dieses Ziel tatsächlich auch erreicht, bleibt strittig. Ja, meinte etwa das Magazin Marianne, das den Film als «sehr stark» bezeichnete. Eher nein, urteilten dagegen Medien wie das auflagenstarke Nachrichtenmagazin L’Express, das den Film als «nicht witzig» und «schlapp» charakterisierte. Umstritten war dabei jedoch nie der Ansatz an und für sich, sondern nur, in welchem Maße Yvan Attals Komödie wirklich zum Lachen verleitet.

Wohl nicht die lustigste, aber eine der inhaltlich stärksten Szenen des Films behandelt den Vorwurf einer angeblichen Instrumentalisierung des Schoa-Gedenkens durch Juden. Ein rothaariger Mann, der ein Appartement direkt über einer Gedenkstätte bewohnt, kommt auf die Idee, seinerseits Gedenkveranstaltungen und Protestdemonstrationen zur Benachteiligung von Rothaarigen zu organisieren. Alsbald machen verschiedene Gruppen auf ihre jeweils erlittene Benachteiligung aufmerksam: Blonde, Brünette, Dicke – und Alzheimerkranke.

KZ-Nummer Bei einer Gedenkveranstaltung für das von Alzheimerkranken erlittene Unrecht versucht man, einen alten Mann dazu zu bringen, sein Gedächtnis zu trainieren und seine Symptome zu überwinden. Er soll sich an seine Telefonnummer erinnern, scheitert jedoch und nennt immer wieder eine falsche Zahlenfolge. Dann stellt sich heraus, dass die Nummer, die er unaufhörlich nennt, seine auf dem Unterarm eintätowierte KZ-Nummer ist. Die Pointe in dieser Szene erinnert daran, dass die Erinnerung an die Schoa eben doch stärker und ganz anderer Natur ist als all die anderen, negativen Lebenserfahrungen.

Auch jene Kritiker, die den Film für nicht lustig genug befanden – wie Samuel Douhaire im Kulturmagazin Télérama – amüsierten sich zumindest über eine Einstellung. In ihr geht es um das Schicksal des fiktiven rechtsextremen Politikers Boris Vankelen. Dessen Ehefrau, Eva, ist die Chefin einer Partei: des Mouvement national de France (MNF). Fast alle Einzelheiten lassen diese als Wiedergängerin des realen Front National (FN) erscheinen – welcher sich auch selbst als Mouvement national français bezeichnet.

Allerdings ist der ausgedachte MNF auf eine Weise plakativ antisemitisch, wie der echte FN es so niemals war, sondern stets nur im Subtext und in Anspielungen seines früheren Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen. Eva ist, wie dessen Tochter Marine, die Erbin der innerparteilichen Macht qua familiärer Abstammung. Doch ihr Mann, Boris, erfährt bei der Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits plötzlich, dass diese Jüdin war. Nach der Tora, schlussfolgert Vankelen, sei er also ebenfalls Jude. Nun betrachtet er sich im Badezimmerspiegel – und sieht seine Nase wachsen.

«jüdische Macht» Das Ende vom Lied ist, dass Vankelen dieses Argument auch noch zum eigenen Vorteil einsetzt. In einer TV-Show wettert er über die «jüdische Macht im Bankensektor». Daraufhin konfrontiert ihn die Moderatorin mit der Existenz seiner jüdischen Vorfahrin. Doch der Politiker nutzt den Moment, um zu erklären, dass seine Partei deshalb gar nicht antisemitisch sein könne.

Hier mischen sich Fiktion und Wirklichkeit: Wenn der Front National oder die AfD in Deutschland auf ihre antisemitische Positionen angesprochen werden, heißt es auch oft: «Wie können wir antisemitisch sein? Wir haben doch jüdische Mitglieder!»

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