Kulturkolumne

Der Soldat im Speisewagen

Foto: picture alliance / Nicolas Armer/dpa

Kulturkolumne

Der Soldat im Speisewagen

Warum hören wir nicht öfter zu? Von einer Begegnung im Urlaub

von Ayala Goldmann  13.05.2025 17:50 Uhr

Es war am späten Nachmittag, als ich mich im ICE in den Speisewagen setzte. Nur ein einziger Platz war frei. Am Tisch hinten rechts saß ein Soldat der Bundeswehr in Uniform. Normalerweise unterhalte ich mich nie im Zug. Für eine Journalistin bin ich eher unkommunikativ. Nach Tagen voller Kriegsnachrichten, Kampf gegen Antisemitismus und Polarisierung will ich nur noch meine Ruhe. Nicht reden. Nicht diskutieren. Mit niemandem. Aber an diesem Tag war ich offen für mein Gegenüber, das völlig anders tickte als ich.

Wir unterhielten uns über den Fahrplan. Eher beiläufig erzählte der Soldat, er sei in Afghanistan gewesen. »Was hat der Einsatz gebracht?«, fragte ich. »Nichts«, sagte der Mann. Die Afghanen hätten sich nicht helfen lassen. Er selbst habe seitdem ein Kriegstrauma. Ich fragte nicht nach. Ließ ihn reden. Über den Krieg in der Ukraine, der seiner Meinung nach endlich beendet werden müsse. Denn: Krieg sei einfach nur furchtbar. Für die Soldaten. Für die Zivilisten. Für Männer, Frauen und Kinder. Man müsse mit Putin verhandeln. Das Leid dürfe nicht weitergehen. Zu viele Menschen seien schon gestorben.

Ich verteidigte Selenskyj und die Freiheit der Ukraine

Ich verteidigte Selenskyj und die Freiheit der Ukraine – im Speisewagen des ICE. Es seien zu wenige Waffen geliefert worden, sagte ich. Zu viele, meinte er. Von seinem Standpunkt aus hatte der Soldat nicht unrecht, dachte ich, nachdem ich fertig war mit meinem Statement. Er war im Krieg gewesen. Ich nicht.

Von seinem Standpunkt aus hatte der Soldat nicht unrecht, dachte ich, nachdem ich fertig war mit meinem Statement. Er war im Krieg gewesen. Ich nicht.

Von mir selbst erzählte ich wenig. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Warum sollte ich mich als Jüdin oder Israelin outen? Nach mehr als einer Stunde fasste ich mir ein Herz. Ich sagte dem Soldaten, warum ich allein in Venedig war. Erzählte ihm von meiner geänderten Urlaubsplanung. Dass ich eigentlich nach Pessach mit meinem Sohn nach Israel fliegen wollte. Dass wir den Flug gecancelt haben, nachdem der Krieg wieder angefangen hat, und ich stattdessen nach Italien gefahren bin. Weil ich im Urlaub nicht im Schutzraum sitzen will.

Und ich erzählte von meinem Flug an Bord der Maschine von Kanzler Scholz im Oktober 2023 nach Israel. Wie die Hamas den Flughafen in Tel Aviv mit Raketen beschossen hat. Wie wir Journalisten uns auf den Boden legen mussten, neben das voll betankte Flugzeug. Wie der Iron Dome die Raketen abgeschossen hat.

Die Silvesterböller erinnerten mich an die Raketen auf den Flughafen von Tel Aviv

Und wie ich zweieinhalb Monate später an Silvester in Berlin zusammengezuckt bin wegen der Böller – und mich an den Angriff in Tel Aviv erinnert habe. Der Körper vergisst nichts, sagte ich dem Soldaten, weil ich ihm zeigen wollte, dass ich ihn verstehe. Wir Menschen sind nicht für Kriege gemacht, antwortete er, und seine Augen waren sehr weit geworden.

Um Israel, versicherte er mir sofort, nachdem ich meine Erzählung beendet hatte, solle ich mir keine Sorgen machen. Die Bundeswehr stehe fest an Israels Seite! Das wisse er ganz genau. Noch zwei Jahre, und die Hamas werde erledigt sein. Gaza sei unbewohnbar, aus den Wasserhähnen dort komme Salzwasser. Überhaupt seien Donald Trump und seine Vorschläge für den Gazastreifen vielleicht nicht so schlecht.

Ich war nicht seiner Meinung. Aber ich hatte das Gefühl von großem Vertrauen – obwohl ich ihn gar nicht kannte. »Warum mache ich das nicht öfter?«, frage ich mich seit dieser Zugfahrt. Die Welt wäre besser, wenn wir uns mehr Zeit nehmen würden, zuzuhören. Auch den Menschen, die völlig anders ticken als wir.

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Todesursache steht fest

Ihre multiplen Verletzungen seien durch Gewalteinwirkung entstanden, so die Gerichtsmedizin

 18.12.2025

Bad Arolsen

Floriane Azoulay scheidet als Direktorin der Arolsen Archives aus

Die Amtszeit der Direktorin der Arolsen Archives endet im Dezember. Unter Floriane Azoulay sammelte das Archiv Auszeichnungen, sie selbst war alles andere als unumstritten

 18.12.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. Dezember bis zum 31. Dezember

 18.12.2025

Interview

»Die Zeit der Exzesse ist vorbei«

In ihrem neuen Buch »Glamour« setzt sich die Berliner Autorin Ute Cohen mit Schönheit und Eleganz auseinander. Dabei spielt auch Magie eine Rolle - und der Mut, sich selbst in einer »Zwischenwelt« inszenieren zu wollen

von Stefan Meetschen  17.12.2025 Aktualisiert

Potsdam

Kontroverse um Anne-Frank-Bild mit Kufiya

Ein Porträt von Anne Frank mit Palästinensertuch in einem Potsdamer Museum entfacht Streit. Während Kritiker darin antisemitische Tendenzen sehen, verteidigt das Museum das Bild. Die Hintergründe

von Monika Wendel  17.12.2025