Literatur

Schreiben ohne Zwang

»Auch wenn Kunst und Kultur die Welt nicht retten können, ohne sie wäre die Welt bereits verloren«: die Schriftstellerin Lana Lux Foto: Paula Winkler

Im Herzen Europas, wo die Erde noch immer das Blut der beiden Weltkriege verdaut, steht Deutschland einmal mehr an einem Scheideweg. Während die politische Landschaft sich bedrohlich nach rechts bewegt, die Menschen den Unterschied zwischen Täter und Opfer zu verlernen scheinen und mit ihrem Rassismus und Antisemitismus am helllichten Tage hausieren gehen, wird die Kultur, die Seele der Gesellschaft erstickt.

Viele Orte der kulturellen Teilhabe müssen nach drastischen Kürzungen im Haushalt schließen. Auch die leiseste aller Künste, die Literatur, ist betroffen. Die Botschaft an uns Künstler scheint klar: Wir brauchen eure Kunst nicht – zumindest nicht, wenn sie keinen wichtigeren Zweck erfüllt als den, der einer Seele zukommt.

Der einzige Weg, ein nicht entfremdetes Leben zu führen

Die Entscheidung, sich der Kunst zu verschreiben, ist für Menschen wie mich der einzige Weg, ein nicht entfremdetes Leben zu führen. Dafür nimmt man finanzielle Unsicherheiten und Zeiten der Einsamkeit in Kauf.
Ich habe immer daran geglaubt, dass Kunst nur dann berühren kann, wenn die Künstlerin sie frei lässt, keine Agenda verfolgt, nichts explizit verarbeiten möchte, sondern nur als ein Medium oder Kanal fungiert, durch welches das Werk sich materialisieren kann.

Dieser Zugang mag einigen lächerlich oder esoterisch erscheinen. Schließlich gibt es Hochschulen, an denen Kunst akademisch gelehrt wird. Doch das widerspricht sich in meinen Augen gar nicht. Das Handwerk des Schreibens, Malens oder Komponierens muss selbstverständlich erlernt werden, aber ein gutes Werk muss zu einem kommen.

Mein literarisches Schreiben hatte mich viele Jahre sehr erfüllt. Obwohl ich mich nie davor scheute, den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft zu legen und über Themen wie Zwangsprostitution, Essstörung und Femizid zu schreiben, schenkte mir mein künstlerischer Prozess viel Ruhe und Zufriedenheit. Nach intensiver Recherchearbeit tauchte ich in imaginäre Welten ab. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, mich für die Dauer des Schaffens der realen Welt zu entziehen.

Dreimal habe ich einen solchen Prozess durchlaufen, an dessen Ende jeweils ein Roman entstanden war. Anschließend folgte der Austausch mit Leserinnen und Lesern. Es war, als hätte ich durch die Literatur endlich einen Weg gefunden, der stummen Einsamkeit meiner Kindheit und Jugend zu entkommen.

Doch die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Jahre – der russische Angriffskrieg, der Horror des 7. Oktober, Deutschlands politischer Rechtsruck – haben sich für mich als ukrainisch-deutsche Jüdin unbeschreiblich nah und bedrohlich angefühlt. Der Rückzug vom Tagesgeschehen, den ich mir zuvor erlaubte, schien mir nun unmöglich. Unmoralisch.

Mein Anspruch, etwas politisch Relevantes zu erschaffen, torpedierte den kreativen Prozess.

Ich spürte den Anspruch, meine Reichweite für Aktivismus nutzen zu müssen, und stellte mir ständig die Frage, ob ich genug tue. Mehr schlecht als recht versuchte ich, auf sozialen Kanälen gegen Populismus, russischen Imperialismus und die Wiederauferstehung des Antisemitismus anzukämpfen.

Doch mit jedem winzigen Post und jeder flüchtigen »Story«, in die ich unverhältnismäßig viel Zeit investierte, fühlte ich mich, als würde ich im Treibsand der brutalen Ereignisse stecken. Trotz meiner hastigen Bemühungen sank ich immer tiefer, ohne dass jemand von meinen Anstrengungen zu profitieren schien.

Mehrmals versuchte ich, einen neuen Roman zu beginnen. Doch mein Anspruch, etwas politisch Relevantes zu erschaffen, torpedierte meinen kreativen Prozess. Schreiben war für mich, wie gesagt, ein organisches Unterfangen. Doch jetzt konnte ich weder Figuren noch Sprache erzwingen. Je länger ich in der Schaffenskrise steckte, desto größer wurde mein Neid auf Schriftsteller und Journalisten, die es schafften, den Schmerz unserer Zeit in ihre Werke zu kanalisieren. Ich hatte das Gefühl, dass nur eine aktivistische Autorschaft eine Daseinsberechtigung hat.

Ich saß vor meinem Laptop, die Finger über den Tasten verkrampft

Gleichzeitig war es mir unmöglich, mich in diese Rolle zu zwängen. Ich saß vor meinem Laptop, die Finger über den Tasten verkrampft, doch die Worte verweigerten sich. War es besser für die Welt, wenn Autorinnen wie ich nichts mehr schrieben?

Mir wurde bewusst, dass ich weder durch erzwungene Texte noch durch mein Verstummen das Problem der moralischen Unterernährung unserer Gesellschaft lösen würde. Wie kam ich überhaupt auf die größenwahnsinnige Idee, dass es meine Aufgabe war? Darum zog ich mich von den sozialen Medien ein wenig zurück, reduzierte meine Dosis toxischer Nachrichten auf zweimal am Tag und begann wieder zu schreiben, was geschrieben werden wollte.

Manchmal wünschte ich, ich würde in meinem Briefkasten ein amtliches Dokument vorfinden, welches mir bescheinigt, dass meine literarische Arbeit auch in Zeiten wie diesen nicht bedeutungslos ist und ich mich für weitere Schreibprozesse von der Welt entrücken darf. Aber so ein Schreiben wird weder in meinem noch im Briefkasten anderer Autorinnen ankommen. Wir müssen uns selbst für die Kunst entscheiden. Denn auch wenn Kunst und Kultur die Welt nicht retten können, ohne sie wäre die Welt bereits verloren.

Die Autorin ist Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin.

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