Redezeit

»Schreiben ist existenziell«

»Ich habe den orthodoxen Weg nie verlassen – auch wenn ich gelegentlich Zweifel an Gott habe«: Mira Magén Foto: Thomas Zirnbauer

Frau Magén, in Ihrem neuen Roman »Wodka und Brot« beschließt der Protagonist von einem Tag auf den anderen, sein altes Leben samt Familie hinter sich zu lassen und etwas Neues zu beginnen. Gab es in Ihrem Leben einen ähnlichen Moment?
Wie jeder wollte ich auch schon einmal alle Zelte hinter mir abbrechen und neu anfangen. Immerhin habe ich alle fünf Jahre einen anderen Beruf ausgeübt: Krankenschwester, Sekretärin, Psychologin, Lehrerin und Schriftstellerin. Alles in allem aber führe ich alternative Leben nur durch meine Romanfiguren, die mich bereichern und meine verborgenen Wünsche repräsentieren. Ein vollkommener Neubeginn ist und bleibt in meinem Leben eine Art Wunschdenken.

Sie sind in einer orthodoxen Familie aufgewachsen. Als junge Frau haben Sie sich für einen anderen Lebensstil entschieden. Ist das nicht auch eine Form von absolutem Neubeginn?
Ich würde sagen, dass ich den orthodoxen Weg nie verlassen habe – auch wenn ich gelegentlich Zweifel an Gott habe und dies in meinen Büchern eine gewisse Rolle spielt. Aber: Ich lebe nach wir vor ein orthodoxes Leben, wenn auch ein eher ungewöhnliches orthodoxes Leben, an dem der ein oder andere Orthodoxe Anstoß nimmt.

Inwiefern?
Mein engster Familienkreis ist stolz auf mich und unterstützt meine Arbeit. Der weitere Familienkreis lehnt jedoch meine Arbeit als Autorin ab, weil dort Themen wie Erotik behandelt werden. Das ist natürlich traurig, ich versuche meiner Familie dann zu erklären, dass es in Ordnung ist, auch über so etwas zu schreiben.

Begreifen Sie sich als Vermittler zweier Welten?
Mir sind in der Tat beide Welten wohl bekannt. Mein Herz ist auf der orthodoxen Seite, mein Geist ist in der modernen säkularen Welt beheimatet.

Wie haben über Ihre Familie hinaus andere Orthodoxe reagiert, als sie anfingen, Romane zu schreiben?
Zuallererst muss ich sagen, dass es »die Orthodoxen« nicht gibt. Es handelt sich um eine riesige und heterogene Gruppe. Manche haben meine Bücher gelesen, die meisten nicht. Und manche, wenn auch nicht viele, respektieren sogar meine Arbeit als Schriftstellerin.

Sie haben einmal gesagt, dass Orthodoxe Sie oft fragen: Warum noch ein Buch schreiben, es steht doch schon alles geschrieben. Was antworten Sie?
Ein Teil meiner Familie denkt so. Dabei gibt es so viel, was eben noch nicht geschrieben wurde. Wir Menschen sind kreativ, wir schauen immer nach neuen Ideen, nach Anregungen jeder Art. Ich jedenfalls könnte ohne das Schreiben nicht leben. Schreiben ist mehr als eine bloße Möglichkeit. Schreiben ist existenziell.

Hat die Familie, die in Ihren Büchern oft ein zentrales Thema ist, in Israel einen besonderen Stellenwert?
Ja, die Familie ist hier vielleicht noch wichtiger als anderswo. Unser Leben als Juden basiert auf traditionellen Werten und menschlichen Grundproblemen. Diese sind immer verbunden mit der Familie. Alles, was wir denken, meinen und fühlen steht mit ihr im Zusammenhang. Man kann seine Familie mögen oder hassen – aber man kann ihren Einfluss nicht leugnen.

Wir waren zu diesem Gespräch in Berlin verabredet. Dann kam der Gaza-Konflikt. Sie entschlossen sich, in Israel zu bleiben.
Ja, als der Konflikt begann, hatte ich große Angst um meine Familie. Ich habe gefühlt, dass ich da bleiben musste, wo mein Herz ist: in Israel bei meiner Familie. In einer solchen Situation konnte ich meine Heimat nicht im Stich lassen.

Sie leben in Jerusalem. Hätten Sie es jemals für möglich gehalten, dass die Hamas auch Israels Hauptstadt bombardiert?
Unter keinen Umständen. Wir alle dachten, dass Jerusalem durch seine heiligen Plätze vor den Angriffen aus dem Gazastreifen geschützt sei. Wir dachten, dass sei eine Art Versicherung vor Attacken der Hamas – ein großer Irrtum.

Wie sind Sie mit der Angst umgegangen?
Ich habe fast stündlich die Nachrichten verfolgt und ansonsten versucht, meine alltägliche Routine, soweit es geht, beizubehalten. Ich versuchte, mich von der Angst nicht bestimmen zu lassen. Das ist grundsätzlich der beste Umgang mit Angst: selbtbestimmt zu bleiben.

Manche sind der Meinung, die Regierung Netanjahu hätte wahltaktische Gründe für die Operation »Wolkensäule« gehabt. Sehen Sie das auch so?
Nein, denn jeder in Israel – auch die Gegner von Likud und Netanjahu – waren sich der Notwendigkeit bewusst, dass wir gegen den permanenten Beschuss aus dem Gazastreifen etwas unternehmen mussten. Die Situation war schlichtweg unerträglich.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.

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Mira Magén, Anfang der 50er-Jahre in Kfar Saba geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden; die Stationen ihrer Biografie verraten jedoch eine kleine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den bedeutendsten Autorinnen ihres Landes. Ihr Werk, das Romane und Erzählungen umfasst, wurde unter anderem mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnet.

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