Literatur

Schreiben als Zuflucht

Tagebuch. Wie viele führen heute noch Tagebuch mit der Hand? Abgelöst wurde die subjektive persönliche, oft sehr intime Aufzeichnung im digitalen 21. Jahrhundert durch Blogs. Historisch Bewanderte erinnern diese an die in Großstädten zu findenden Litfaßsäulen, die im Sommer 1855 dadurch entstanden, dass der Berliner Buchdrucker Ernst Litfaß die clevere Idee hatte, Urinale zu »verschönern«. Er ummantelte sie baulich mit großen, am oberen Ende geschlossenen Röhren und beklebte diese mit Werbeplakaten.

Das Schreiben eines Tagebuchs zählt heute zudem zum Werkzeugkasten der Psychologie. Dabei mutiert das Diarium, das Nachsinnen über den Tag, die eigenen Handlungen, Unterlassungen, Verletzungen, Gefühle, zum Vehikel barrierefreier Achtsamkeit.

Literarisch hingegen hat das Tagebuch als Genre eine lange Geschichte. Sie reicht vom Renaissance-Engländer Samuel Pepys, der seine erotischen Abenteuer und Übergriffe ebenso festhielt wie Politisches und Soziales, über den Genfer Philosophie-Professor Henri-Frédéric Amiel (1821–1881), dessen Journal intime 17.000 (!) Seiten umfasste, zu den Franzosen André Gide, Paul Léautaud (19 Bände, 7500 Seiten) und Julien Green. In England hinterließen James Boswell im 18. Jahrhundert und Virginia Woolf 150 Jahre später umfangreiche lesenswerte Tagebücher.

In deutscher Sprache bemerkenswerte Tagebücher hinterließ Thomas Mann – Sohn und Herausgeber Michael beging über der Edition von Band I aus Verzweiflung Selbstmord – und, mit vielen Abstrichen, Ernst Jünger. Dessen fünfteiliges Journal Siebzig verweht war schon deutlich weniger für sich als vielmehr für das Außen geschrieben. Das ist auch der Fall bei Dror Mishanis Fenster ohne Aussicht.

Beginnend mit dem 7. Oktober 2023 und endend mit dem 10. März 2024

In sechs Teile hat der israelische Krimi-Bestsellerautor seine Notizen zwischen dem 7. Oktober 2023 und endend mit dem 10. März 2024 untergliedert, sie von »Schock und Mobilisierung« über »Vexierbilder der Kriegsroutine« bis zu »Mit offenen Augen leben« reichend überschrieben. Am 7. Oktober war er im französischen Toulouse Gast eines Literaturfestivals und schaffte es am Tag danach noch retour zur Familie in Tel Aviv.

Er protokollierte, zur unverstellten Selbst- und Weltvergewisserung, was ab dann passierte, wie jäh und brutal sich das Alltagsleben ändern sollte, wie unterschiedlich die Tochter, 13, reagierte – sie suchte fast manisch alle Horror-Videos im Internet heraus – und der Sohn, fast 16, der politisch apathisch ist und die schulfreie Zeit mit Fußball-Übertragungen füllte.

Haben wir die Katastrophe hinter uns oder vor uns? Das fragt sich Dror Mishani am 15. Oktober. Mit diesem Tag setzt Kapitel II ein. Dieses, 14 Tage abdeckend, überschreibt er mit »Verwirrung und Furcht«. Er ist weiterhin durcheinander. Nach jedem Telefonat mit seinem Bruder Ariel, der früher beim Schabak (dem israelischen Inlandsgeheimdienst) war und im Jahr 2000 Soldat im Libanon, kann er keinen Schlaf finden.

Eine teure Flasche Whiskey, das Geschenk eines Freundes aus der Schweiz, öffnet er. Der Alkohol war eigentlich gedacht für ganz besondere Anlässe – aber ist es jetzt noch sinnvoll, die Flasche nicht anzubrechen, ihren Inhalt unangetastet zu lassen?

Er steht auf dem Balkon seiner Wohnung in Tel Aviv, den Tumbler in der Hand, aufgewühlt von Gesprächen mit Ariel, der leichthin Eskalationen bis zum Einsatz von Nuklearwaffen skizziert. Über ihm am Himmel hört er die Kampfjets. Was Mishani bleibt? Schreiben als Trost, als Zuflucht.

Manches ist mehr als diskutabel, so seine Eloge auf Frantz Fanon, den algerischen Psychiater und marxistischen Revolutionstheoretiker. Vieles ist berührend und klug, nicht weniges, vor allem sein Sinnieren, ob und wie einst Frieden möglich sein wird, Zivilität, ein anderes Miteinander, ist nachdenkenswert in diesem Buch, das bisher nur auf Deutsch erscheint.

Dror Mishani: »Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv«. Übersetzt von Markus Lemke. Diogenes, Zürich 2024, 216 S., 26 €

Andrea Kiewel

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