Lesebuch

Schnittlauch oder Gipfelglück?

Der »Jüdische Almanach« widmet sich in diesem Jahr unterschiedlichen Ansichten über die Natur

von Alexander Kluy  21.10.2021 08:27 Uhr

Foto: Jüdischer Almanach Natur

Der »Jüdische Almanach« widmet sich in diesem Jahr unterschiedlichen Ansichten über die Natur

von Alexander Kluy  21.10.2021 08:27 Uhr

»Wer nie bergauf gegangen ist, hat nie gelebt.« Der kosmopolitische Philosoph Vilém Flusser wurde in seinem Text »Täler« zum Aphoristiker. 80 Jahre zuvor, im Sommer 1910, war ein anderer Philosoph, Walter Benjamin, in einem Brief an einen Freund ebenfalls alpin gestimmt. »Manchmal frage ich mich«, schrieb der Berliner, »wenn ich so die Berge sehe, wozu überhaupt noch die ganze Kultur da ist, aber man denkt noch nicht daran, wie sehr einen gerade die Kultur (und sogar die Über-Kultur) zum Naturgenuss befähigt.«

Die Geschichte der Alpen, liest man bei Arnold Zweig aus Glogau, 83 Meter über Normalhöhennull, »gibt im Groben und Abgekürzten die Geschichte Europas, das heißt, unserer Gesittung«. Dieser Satz stammt aus Dialektik der Alpen. Fortschritt und Hemmnis, die Zweig zwischen 1939 und 1941 verfasste – in Haifa, höchste Erhebung: 400 Meter über Meereshöhe, wohin er geflohen war. 28 Jahre später starb ein jüdischer Philosoph in den Bergen, Theodor Wiesengrund Adorno.

urlaub Anfang August 1969 waren er und seine Frau Gretel zum Urlaub ins hochalpine Wallis gefahren. Auf der Spitze eines Dreitausenders setzten bei dem Frankfurter Philosophen Herzschmerzen ein, am selben Tag ließ er noch ein Loch in einem seiner Bergstiefel bei einem Schuhmacher reparieren, aus dessen Laden wurde er ohne Umwege in ein Hospital in Visp gebracht. Und verstarb am folgenden Tag. Adorno hatte Jahre zuvor in den Schweizer Alpen den Dichter Paul Celan verpasst, ein Echo findet sich in Celans Prosaarbeit »Gespräch im Gebirg«.

»Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch.« Diesen Satz Celans hat Gisela Dachs, die langjährige Editorin des Jüdischen Almanachs, der Ausgabe 2021 vorangestellt. Gewidmet ist sie der Natur. Und kontert wenige Zeilen später mit einem launigen Zitat Friedrich Torbergs, das der Wiener Autor vom einstigen Chefredakteur des urbanen »Prager Tagblatts« überlieferte: »Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe.« Dem widerspricht der Wiener Lyriker Robert Schindel in seinem Beitrag über »Die Juden und die Alpen«, in dem er über historische wie über autobiografische »Zerklüftungen« nachsinnt.

»Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch.« Diesen Satz Celans hat Gisela Dachs der Ausgabe 2021 vorangestellt.

Man vergisst anderseits durchaus, dass es noch vor rund 100 Jahren auf deutschem Boden, viel tiefer gelegen, ein Landjudentum gab, im Oberbadischen etwa und am westlichen Bodensee. Der Schriftsteller Jacob Picard kam 1883 in Wangen am Untersee zur Welt, einem von vier sogenannten Judendörfern auf der Höri. »Fragt man nach dem Jüdischen überhaupt, und wer mich dazu erzogen hat«, schrieb er später in »Erinnerung eigenen Lebens«, einem Rückblicktext, »so muss ich antworten, dass unser ganzes Leben davon erfüllt war, dass es die Luft war um mich von Anbeginn, bestimmt freilich von der starken Art des väterlichen Großvaters Isaac Jacob, mit dem wir im selben hochgiebeligen Haus wohnten, mit der angebauten Scheune und dem Stall, darin immer mindestens vier Kühe standen, am Ausgang des Dorfes an der Hauptstraße nach Osten.«

themenvielfalt Eine weite Themenvielfalt hat Dachs anregend arrangiert. Das Lesebuch setzt mit deutsch-jüdischen Naturlandschaften und Szenarien ein, auf die erhellende Essays zum Naturverständnis (Yael Kupferberg), zu jüdischen Quellen für Welt-Verantwortung (Jeremy Benstein) wie zu Tieren in der Bibel (Ellen Presser) folgen. Daran schließen sich Gedanken zu Orten, Stätten, Landschaftsarchitektur an, zu Land und Meer, Wüste und Erinnerung, Parks und Öko-Zionismus in Israel.

Dazu porträtiert Uriel Kashi fast zu knapp die wurzelschlagende Pflanzenvielfalt in Israel. Und Na’ama Sheffi und Anat First zeichnen nach, wie Heimat bildliche Wurzeln schlug auf Banknoten und Münzen. Schön, dass Dachs auch einen Auszug aus Meir Shalevs Buch Mein Wildgarten auswählte. »Wer«, so Shalev beglückt, »den Stimmen des Gartens lauscht und den Wechsel seiner Farben und Gerüche wahrnimmt, wer an den Füßen die Erde und auf der Haut Wind und Sonnenschein spürt – der kennt auch die Jahreszeiten.« Auch wer nie gegärtnert hat, hat, ach, nie gelebt.

Jüdischer Almanach des Leo Baeck Institute: »Natur. Erkundungen aus der jüdischen Welt«. Herausgegeben von Gisela Dachs. Jüdischer Verlag, Berlin 2021, 232 S., 23 €

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