Reise

Sabbatland Armenien

»Jüngere Schwester der judäischen Erde« (Ossip Mandelstam): Landschaft in Armenien Foto: Getty Images / iStock

Als Franz Werfels Genozid-Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh 1933 erschien, war in Deutschland soeben Hitler an die Macht gelangt. Nur sechs Jahre später – da war der Roman längst verboten und Werfel bereits ein gejagter Emigrant – würde der Diktator auf dem Obersalzberg, in Vorbereitung des Holocaust, jene berüchtigte Frage in die Runde werfen: »Wer erinnert sich denn heute noch an die Vernichtung der Armenier?«

Wer sich erinnert hat, waren – neben Publizisten wie Armin T. Wegner und Johannes Lepsius oder dem damaligen Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht, der bereits 1916 die Kollaboration des Kaiserreichs mit den jungtürkischen Völkermördern öffentlich gemacht hatte – vor allem Juden.

Werfels skrupulös recherchierter Roman um die 1915 auf dem Musa Dagh ausharrenden und kämpfenden Armenier wurde 1943 zur Inspiration für die Widerstandskämpfer von Bialystok, die sich nicht kampflos der deutschen Liquidation des Ghettos ergeben wollten. Und im damals britischen Palästina sollte im Falle eines Einmarsches der Wehrmacht der Carmel-Berg als Rückzugsort der zionistischen Kämpfer dienen – der »Musa-Dagh-Plan«.

BÜSTE Auch im gegenwärtigen Armenien ist Franz Werfel unvergessen. Im Dorf Musa Ler – das ist der armenische Name für den heute in der Türkei gelegenen Berg – leben Nachfahren der einstigen Kämpfer; oberhalb des kleinen Ortes nahe der Hauptstadt Jerewan befindet sich ein beeindruckendes Mahnmal aus magentarotem Tuffstein. Darin eine Büste von Franz Werfel. Von hier aus geht der Blick über eine weite wellige Ebene aus windgemähtem Gras und sonnengesprenkeltem Stein, über die – zu anderer Zeit, doch ebenfalls in Todesgefahr – der bereits 1930 von Stalin argwöhnisch beobachtete russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam geschrieben hatte: »Armenien – jüngere Schwester der judäischen Erde«. (Nachdem der Text wenig später in einer sowjetischen Literaturzeitschrift erschienen war, wurde dessen ebenfalls jüdischer Chefredakteur Zesar Wolpe sofort entlassen.)

Für Mandelstam, der 1938 in einem stalinistischen Arbeitslager nahe Wladiwostok elendig verhungerte, war der damalige Armenien-Aufenthalt, so erinnert sich seine Witwe Nadeshda in ihrem Buch Das Jahrhundert der Wölfe, ein letztes Atemholen gewesen, ein geradezu existenzielles Einsaugen von Sonne, Bergen, Tradition und Gedächtnis, kulminierend in diesen Zeilen: »Zweihundert Tage war ich in dem Sabbatland, / Das man wohl auch Armenien nennt.«

»Noch unbesudelt von Byzanz« wähnte damals Ossip Mandelstam die damalige Sowjetrepublik, der zwar ein wenig mehr kulturelle Autonomie als anderen Gebieten der UdSSR zugestanden wurde, die jedoch dann erst in den Jahren nach 1988 zur Unabhängigkeit gelangen konnte.

MUSEUM »Und selbst in den drei Jahrzehnten danach ...«, seufzt Harutyun Marutyan, Direktor des »Armenian Genocide Museum-Institute«, auf einem Hügel oberhalb von Jerewan. Der renommierte Wissenschaftler wurde sogleich nach der friedlichen Revolution von 2018, die endlich Schluss machte mit postsowjetischem Korruptions-Autoritarismus, mit dem neuen Posten betraut. Seither hat er thematische Erweiterungspläne mit dem architektonisch Yad Vashem nachempfundenen (und bereits zu Sowjetzeiten dem fernen Moskau abgetrotzten) Museumsgelände.

Bei einer Schautafel zu Franz Werfel soll es nämlich in Zukunft nicht bleiben. Eher soll die Arbeit des 1900 geborenen jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der – als Resultat des Völkermords von 1915 und der Schoa – als Jurist die Bezeichnung »Genozid« in den Sprachgebrauch eingeführt hatte, fruchtbar gemacht werden. »Dass in zahlreichen jüdischen Museen der türkische Völkermord an den Armeniern bislang nicht oder nur äußerst kursorisch erwähnt wird, muss doch nicht bedeuten, dass im Umkehrschluss auch wir die Schoa nur nebenbei abhandeln. Wenn ein so eminent wichtiger Forscher wie Yehuda Bauer vom ›Völkermord‹ an den Armeniern spricht, müssen auch wir reagieren.«

Bis heute werden Franz Werfel und Edgar Hilsenrath in Armenien verehrt.

Dennoch: Die den wechselhaften türkisch-israelischen Staatsbeziehungen unterworfene Mal-so-mal-so-Rhetorik mancher Knesset-Abgeordneter sieht Harutyun Marutyan äußerst kritisch: »Genozid ist mehr als ein Wort und sollte weder taktisch vermieden noch rein taktisch ausgesprochen werden.«

ORDEN Umso mehr, als es – neben Ralph Giordanos 1986 ausgestrahlter, damals in Westdeutschland Furore machender Fernsehdokumentation über die Armenier – einen zweiten großen Roman über den Völkermord von 1915 gibt, nicht zufällig ebenfalls von einem deutschen Juden geschrieben: Edgar Hilsenraths 1989 erschienenes und damals mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnetes Epos Das Märchen vom letzten Gedanken.

Längst ist das Buch ins Armenische übersetzt und seitdem ebenso Teil des hiesigen kulturellen Gedächtnisses. Der Holocaust-Überlebende Edgar Hilsenrath, der Ende vergangenen Jahres starb, war mit dem höchsten Orden Armeniens ausgezeichnet worden – und ist heute auch jenen jungen Leuten ein Begriff, die tagsüber und abends um das architektonische Wunderwerk des Republik-Platzes flanieren und sich an einer postrevolutionären Gegenwart erfreuen, die nun endlich die Träume von politischer Transparenz und wirtschaftlicher Prosperität ins Reale rückt.

Esperanto Und es gibt Susanna Gevorgyan. Die Esperanto-Expertin der Jerewaner Universität weiß genau, wie die einst von Eliezer Levi Samenhof – geboren 1859 in eben jenem späteren Vernichtungsort Bialystok – erfundene Sprache grenzübergreifendes Verständnis ermöglichen sollte und deshalb sowohl von Hitler als auch von Stalin verboten wurde. Während der stalinistischen »Säuberungen« waren auch armenische Esperantisten verhaftet worden und kamen in Lagern um.

Nicht zuletzt deshalb hat Gevorgyan – in jahrelanger Arbeit und in drei Bänden – jenes Buch übersetzt, das ihr von allen am wichtigsten ist: La Fabelo De La Lasta Penso von Edgar Hilsenrath. Bei einem Treffen im Regionalbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung hat sie die Bücher dabei, mitsamt einer Widmung für den deutschen Gast.

Es sind Begegnungen wie diese – und Menschen wie Susanna Gevorgyan, Harutyun Marutyan und die jungen Enthusiasten von Jerewan –, die das Erinnern lebendig halten, jenseits von pathetischem Pomp und missgünstigem Geschichtsrelativismus. Sie haben die Namen und Bücher der deutschen Juden nicht vergessen – ebenso wenig wie Franz Werfel, Edgar Hilsenrath und Ralph Giordano je das armenische Trauma verdrängt hatten.

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