Claudia Roden

»Rezepte öffnen Welten«

Die renommierte Kochbuchautorin über die Geschichte der sefardische Juden, überraschende Begegnungen in Marokko und warum sie nur selten für sich selbst kocht

von Katrin Richter  23.12.2021 12:08 Uhr

Claudia Roden wurde 1936 als Tochter sefardischer Eltern in Kairo geboren. Foto: Susan Bell

Die renommierte Kochbuchautorin über die Geschichte der sefardische Juden, überraschende Begegnungen in Marokko und warum sie nur selten für sich selbst kocht

von Katrin Richter  23.12.2021 12:08 Uhr

Frau Roden, Sie gelten als »Mutter aller jüdischen Kochbücher«. Gefällt Ihnen diese Bezeichnung?
Nun, ich weiß, dass Leute das sagen. Ich weiß natürlich, dass ich eine der ersten Frauen gewesen bin, die ein jüdisches Kochbuch geschrieben haben, aber ich habe gar nicht so sehr darüber nachgedacht. Ich war auf einer Konferenz des Oxford Symposium on Food and Cookery, und ich wurde dort zum Thema jüdisches Essen befragt. Danach sagten zwei der bekanntesten Food-Journalisten Großbritanniens, dass sie gern mit einem Verlag darüber sprechen würden, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über jüdische Küche zu schreiben.

Hatten Sie?
Das ist eine fast unmögliche Aufgabe! Jahre später erzählten sie mir, wie sie darauf gekommen waren. Es gab nämlich in meinem Buch über die Küche des Nahen Ostens einige Rezepte, die ich als jüdische Rezepte beschrieben hatte. Man hatte darüber in Europa aber vielleicht noch nicht so viel gehört, denn sie waren arabisch-jüdisch, sefardisch-jüdisch. Einige waren Schabbat-Gerichte, andere Rezepte waren für Feiertage bestimmt.

Wie sah die Kochbuch-Landschaft denn damals aus?
Es gab dieses eine jüdische Kochbuch, das von der Frau des Herausgebers des »Jewish Chronicle« geschrieben worden war. Sie hatte jede Woche Rezepte im JC, aber es waren Rezepte aus Kriegszeiten, und es war – sagen wir – die Basis von aschkenasischen Rezepten. Die richtigen aschkenasischen Gerichte hatten Großbritannien damals noch nicht erreicht. Als ich also diesem Kochbuch damals zustimmte, wurde es zu meiner Obsession für 15 Jahre. Ich wollte Juden in ihren Heimatländern finden, wo sie aber meistens nicht mehr waren. Nebenbei hatte ich noch andere Projekte, ich reiste als Food-Journalistin viel, und auf diesen Reisen recherchierte ich auch für mein Kochbuch.

Woher haben Sie die Rezepte bekommen?
Als ich zum Beispiel nach Ungarn reiste, hatte ich einige Kontakte. Aber wenn ich keine hatte, dann ging ich einfach in die Synagoge. In Venedig ging ich auch in die Synagoge, und dort sagte mir jemand, dass ein älteres Ehepaar für Schabbat kochen würde. Jeder sei willkommen. Also ging ich hin. Die Frau sagte: »Venedig allein hat vier unterschiedliche Arten jüdischer Küche, schauen Sie doch nur, wie viele Synagogen wir hier haben.« In der Türkei begegneten mir Leute, die jüdische Rezepte sammelten, um mit den Einnahmen – sie arbeiteten auch an einem Buch – Geld für ein jüdisches Altersheim in Istanbul zu sammeln. Rezepte blieben in der Familie. Sie wurden von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Von der Mutter an die Tochter, seltener an die Schwiegertochter.

Wann haben Sie angefangen, Rezepte zu sammeln?
Als die Juden Ägypten verließen, 1956. Mir war aber gar nicht bewusst, dass das jüdische Rezepte waren – von denjenigen zu den Feiertagen mal ganz abgesehen. Wir kochten wie alle anderen auch. Ich hatte drei Großeltern, die aus Aleppo kamen, also kochten wir syrisch.

Was zeichnet das jüdisch-syrische Kochen aus?
Die Juden aus Syrien waren Händler. Also kamen alle möglichen Gewürze und Waren ins Land. Als der Suezkanal gebaut wurde, erstarb der Handel, und die Juden verließen Aleppo. Einige gingen in die USA, einige nach Mexiko. Viele gingen aber nach Ägypten. Zu dieser Zeit wurde in Kairo ein neuer Bezirk errichtet, und dort lebten sie wie in Aleppo: Sie sprachen Arabisch mit syrischem Akzent, sie kochten wie »zu Hause«. Aber es gab natürlich auch Juden, die seit Anbeginn der Zeit in Ägypten waren. Alexandria war ein Handelsknotenpunkt. Die jüdische Gemeinschaft in Ägypten kam also von überall her. Wir standen uns alle sehr nahe, und wir Kinder wussten nie wirklich, woher der andere war. Ich lebte in einer Blase von Menschen, die von irgendwoher kamen und irgendwohin gingen. Und so wurde ich zur Sammlerin: Denn wir wussten nicht, ob wir uns alle noch einmal begegnen würden. Also sagten wir: Gib mir dein Rezept, und ich werde mich daran erinnern. Für mich ist das eine Möglichkeit, an der Kultur festzuhalten.

Wie hat das auf Sie gewirkt?
Mit den Rezepten kamen auch Geschichten. Es war sehr emotional. Denn jemand sagte: Das ist das Rezept meiner Tante in Izmir. Das ist aus Livorno. Und alle waren zu diesem Zeitpunkt in Ägypten. Auf der einen Seite sah ich die Rezepte als Identität. Ich fragte mich während meiner 15-jährigen Arbeit an meinem Buch: Wer sind diese Menschen, wie waren die Gemeinden damals? Ich hätte ewig so weitermachen können, denn: Ich habe die Juden in Afghanistan vergessen. Die, die ich traf, fragten mich: Warum hast du uns nicht mit aufgenommen?

Ist Ihnen das noch öfter passiert?
Ja. Auf einer Reise durch Australien, wo ich in einem Großmarkt kochte, kam ein junger Mann auf mich zu und sagte: Wir sind indische Juden, meine Eltern haben erfahren, dass Sie hier sind. Würden Sie gern mit zu uns kommen und uns kennenlernen? Und so traf ich mitten in Australien eine ganze Gruppe indischer Juden. Ein anderes Mal, ich nahm an einem Festival für jüdische Kultur in Montreal teil, traf ich dort Juden aus Marokko.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Essen Türen öffnet.
Unbedingt! Ich erinnere mich, dass ich einmal in Südafrika war und das Telefon in meinem Hotelzimmer klingelte: »Sie kennen mich nicht, aber ich Sie. Hätten Sie Lust, zu uns zum Schabbat zu kommen?« Ich war bei so vielen Schabbatot! Diese Familie kam ursprünglich aus Rhodos. Die Mutter war schon in ihren 90ern, sie begann zu singen: auf Griechisch, auf Judäo-Spanisch, auf Französisch. Alle diese Welten öffneten sich hinter den Rezepten.

Sie haben gerade erzählt, dass Sie auf so vielen Schabbatot waren. Wie sah denn Ihr Schabbat früher aus?
Der meiner Mutter war ein besonderer. Sie kochte immer dasselbe. Sie machte Hähnchen-Soffrito. Hähnchen mit Kurkuma, Knoblauch, Kardamom, manchmal Kichererbsen, Zitrone, Reis dazu. Als ich anfing, für mein Buch zu recherchieren, ging ich zu jedem Schabbat natürlich zu ihr. Aber als mein jüngerer Bruder starb, sie war damals 80 Jahre alt, hörte sie auf zu kochen. Sie konnte es nicht mehr. Also kamen alle zu mir. Und ich testete jüdische Rezepte von überall auf der Welt. Meine Mutter war etwas verunsichert dadurch, denn mein Vater fand interessant, was ich alles ausprobierte, aber sie fühlte sich dadurch ein wenig zurückgesetzt. Ich war so besessen, jüdische Rezepte zu testen, dass ich sie immer wieder kochte. Denn, und das ist interessant: Mir wurden ja keine fertigen Rezepte gegeben. Die Angaben waren so, wie die Leute sie gelernt hatten. Es gab keine exakten Gramm- und Zeitangaben.

Eine Herausforderung …
Wenn ich zum Beispiel nach der Zubereitung eines bestimmten Teigs fragte, dann bekam ich schon mal die Antwort: Sie fügen so viel Mehl wie nötig hinzu, fangen Sie mit dem Wasser, dem Öl an. Wenn ich mich dann nach der Zubereitung erkundigte, kamen öfter Antworten wie: Vermischen Sie alles, und wenn sich der Teig wie ein Ohrläppchen anfühlt, dann ist er richtig. Aber rückblickend waren diese Angaben sehr genau. Zum Beispiel, wenn der Knoblauch im heißen Öl aufhört zu zischen, dann ist das Wasser entwichen. Man muss also mit allen Sinnen dabei sein und kann nicht einfach nebenbei noch schnell etwas anderes machen.

In Ihrem neuen Buch »Med« sprechen Sie von Ihrer Beziehung zum Meer. Was bedeutet die Ihnen?
Ich muss vorausschicken, dass ich einmal Schwimmmeisterin von Ägypten war. Ich war in einem der Schwimmklubs nach britischem Vorbild. Viele Juden waren darin Mitglied. Es gab nicht viele Frauen, die schwammen, aber ich habe einige großartige muslimische Schwimmerinnen getroffen. Auch wenn es sehr wenige waren, denn es war ein muslimisches Land. Aber zurück zur Frage: Das Meer steht für mich für andere Dinge. Ich war in Kairo, eine heiße, trockene Stadt. Alles war sehr prüde. Auch unsere Familie war sehr streng. Ich war niemals allein unterwegs, ich war mehr als beschützt. Aber wenn wir nach Alexandria fuhren – und das dauerte zwei Stunden, und wir waren mit vielen Autos unterwegs, weil es sicherer war –, dann sah ich dieses goldene Meer. In Alexandria glitzerte das Meer. Wir sahen die Salzbänke, kamen an diesem griechischen Café vorbei, Menschen tanzten, es gab Jongleure, wir aßen süßen Mais, das Leben war dort anders.

Können Sie es beschreiben?
Alexandria war griechisch, italienisch, französisch, arabisch, sehr kosmopolitisch. Die Menschen waren einfach glücklich, wenn sie einen Kaffee hatten, eine Mezze – es wehte ein freier Geist. Als meine drei Kinder erwachsen und aus dem Haus waren, fragte ich mich, was ich mit meinem Leben machen sollte. Und ich beschloss, auf die Suche nach diesem Geist von Alexandria zu gehen.

Haben Sie ihn gefunden?
In jedem Land: in den Häfen von Marseille, von Barcelona. Und so verhält es sich auch mit Essen. Damals in Großbritannien waren die Leute alle sehr reserviert. Heute ist das nicht mehr so. Ich war nie so zurückhaltend.

Ganz allgemein gefragt: Was haben Sie vom Kochen gelernt?
Das Kochen hat mir Türen geöffnet. Besonders, als ich mich damals entschloss, zu reisen. Ich hatte Jahre zuvor in London marokkanische Juden kennengelernt, die in der Stadt Urlaub machten. Seitdem waren wir befreundet, und als ich zu ihnen nach Marokko reiste, gaben sie mir Tipps und Empfehlungen, wo ich hingehen könnte, um nach Rezepten zu suchen. Mir wurde schnell klar, dass man als Frau, die damals allein durch ein muslimisches Land reiste, eine Kuriosität war. Die Menschen waren argwöhnisch und fragten sich, was ich da machen würde. Ich entwickelte also eine Art Muster, mit dem ich die Jahre danach gut durchgekommen bin. Ich sprach die Leute einfach an – die ganze Zeit. Wildfremde fragte ich über ihr Essen aus. Und: Es funktionierte. Ich wurde sehr oft zu ihren Verwandten eingeladen. Es gab damals noch viele Juden. Ich habe nicht wirklich nach ihnen gesucht, meistens fanden sie aber mich. So reiste ich also allein durch Marokko. Mit dem Bus. Und wenn mich jemand anpöbelte, dann sagte ich: Hören Sie: Ich habe sechs Enkel! Alleinreisende Frauen waren die Ausnahme, aber es funktionierte.

Sie waren eine Vorreiterin für Food-Journalistinnen.
Heute passiert es ja ständig, aber damals waren die Menschen überrascht, dass eine Frau, eine, die vielleicht auch etwas fremd aussah, ihnen eine ganze Liste voller Fragen über ihr Essen stellte.

Waren Sie eigentlich auch mal ausgedehnter in Osteuropa auf der Suche nach Rezepten?
Ich war in Ungarn, aber woran ich mich sehr gut erinnere, ist meine Reise nach Wien. Die aschkenasische Welt war für mich eine vollkommen andere. Ich kannte aschkenasisches Essen aus London, aber es vor Ort zu finden, das war natürlich sehr aufregend.

Haben Sie ein aschkenasisches Lieblingsessen?
Oh ja, Käsekuchen, Blintzes. Aber es gibt doch so viel anderes. Allein das Gebäck in Wien.

Das macht mehr als Appetit, deswegen möchte ich Sie fragen: Was gibt es heute Abend bei Ihnen zu essen?
Nichts.

Nichts?
Nun, ich lebe allein, aber ich muss auch dazu sagen, dass ich kürzlich für vier Tage eine jüdische Journalistin der »New York Times« bei mir zu Gast hatte. Wir haben gekocht und gekocht. Und ich lud Nigella Lawson, Yotam Ottolenghi und Simon Schama ein. Ich mag eigentlich kein Name-Dropping, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem: Meine Töchter kamen und halfen, aber ich habe das Ganze gekocht. Und danach war ich erschöpft und wollte eigentlich nicht essen. Es war nicht so wirklich stressig, ich bin Aufwand gewohnt. Aber diese Tage waren doch wirklich aufwendig, und mir ist gerade nicht so nach Kochen zumute. Aber es war wundervoll.

Mit der Food-Journalistin und Kochbuch-Autorin sprach Katrin Richter.
Claudia Roden: »Mittelmeerküche. Ein Kochbuch«. Dorling Kindersley, München 2021, 320 S., 29,95 €

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