»Babylon Berlin«

Reminiszenz an die Hauptstadt

Das liebste Sujet des deutschen Fernsehens ist die deutsche Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den 50er-Jahren steht jetzt die Weimarer Zeit auf dem Programm. Natürlich nicht irgendwo, denn mit keinem anderen Ort ist der Mythos der Goldenen 20er-Jahre so eng verbunden wie mit Berlin – damals wie heute Sehnsuchtsort. Dass von diesem freien, vibrierenden, schnelllebigen Berlin am Vorabend des Nationalsozialismus in Form einer Serie erzählt wird, liegt ebenso nahe wie der Versuch, zu den amerikanischen Quality-TV-Serien aufzuschließen.

Am 13. Oktober startete also die Großproduktion Babylon Berlin auf dem Bezahlsender Sky; etwa ein Jahr später soll sie in der ARD ausgestrahlt werden. Mit Produktionskosten in Höhe von fast 40 Millionen Euro ist Babylon Berlin die bisher teuerste deutsche Serie.

Die Berichterstattung über die Produktion ist gespickt von Superlativen und der wiederholt auftauchenden Frage, ob die teilweise Finanzierung über GEZ-Gebühren angemessen sei – zumal die Zuschauerinnen und Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens die zehn Episoden erst in einem Jahr zu sehen bekommen.

figuren Babylon Berlin basiert auf der Romanvorlage von Volker Kutscher. Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten führten Regie und haben eine komplexe Handlung mit diversen Nebenhandlungen und großem Figurenarsenal geschaffen.

Volker Bruch, den wir spätestens seit der Fernsehserie Unsere Mütter, unsere Väter kennen, spielt die Hauptfigur Kommissar Gereon Rath, die sich durch die Unterwelt der sich in Aufruhr befindenden Metropole Berlin bewegt – ehrgeizig, traumatisiert, schweigsam.

1929 führt ein Erpressungsfall den jungen Kommissar von Köln nach Berlin, wo er zunächst in einem Pornografiering ermittelt. Ob sein Partner Bruno Wolter (Peter Kurth) dabei mit ihm an einem Strang zieht, bleibt unklar. Und auch die junge Stenotypistin Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) ist – bei aller Loyalität und allem kriminalistischen Interesse – in ungute Abhängigkeiten verstrickt.

bühnenshows Waffenhandel, Pornografie und Korruption, eine Vergnügungssucht, die kein Morgen kennt, politische Radikalisierung, die im »Blutmai« eskaliert, eine Polizei, die mit brutaler Härte durchgreift – so flirren und faszinieren die Bilder, es deutet sich vielfach an, wie sehr die gesellschaftliche Solidarität bereits aufgekündigt ist.

Babylon Berlin versucht, vor dem Hintergrund einer Kriminalgeschichte einen Blick auf die letzten Jahre der Weimarer Republik zu werfen. Die Serie macht natürlich auch von den Motiven Gebrauch, die die Goldenen Zwanziger so faszinierend machen: das ausschweifende Nachtleben, tanzende Mädchen in Charleston-Kleidern, freizügige Bühnenshows.

Gedreht wurde in Babelsberg, wo erstmals die neu errichtete Außenkulisse Neue Berliner Straße genutzt wurde. 300 Sprechrollen und bis zu 5000 Komparsen sollen mitgewirkt haben. Das Sichtbarmachen der Widersprüche und Umbrüche der Zeit ist ein großes Anliegen, für welches die pompöse Ausstattung genutzt wurde.

aktualität Ob wir dadurch besser verstehen, wie sich der Nationalsozialismus gegen die junge Demokratie durchsetzen konnte und sein Erstarken hingenommen und befürwortet wurde, ist zweifelhaft – eine Frage, die gerade angesichts der Ergebnisse der Bundestagswahl unangenehm an Aktualität gewonnen hat.

Aber letzten Endes ist Babylon Berlin vielleicht doch eher Krimiserie vor historischer Kulisse denn Geschichtsfilm, eine Reminiszenz an Berlin, heute cool, damals »die aufregendste Stadt der Welt«. Das Ergebnis ist visuell auf jeden Fall beeindruckend.

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024