Rachel Aviv

Recht auf eigene Realität

Rachel Aviv arbeitet seit 2013 als Redakteurin beim »New Yorker«. Foto: IMAGO/Newscom World

Rachel Aviv

Recht auf eigene Realität

Erstmals erscheinen Texte der amerikanischen Kolumnistin zu ethischen Fragen der Psychiatrie gesammelt auf Deutsch

von Katrin Diehl  27.03.2025 17:05 Uhr

Eine psychische Störung kommt nicht von heute auf morgen. Sie bricht sich sukzessiv Bahn, sitzt erst einmal tief drinnen. Irgendwann dringt sie dann nach außen, wird manifest und sichtbar, und zwar spätestens dann, wenn die erkrankte Person sich auffallend, von der Norm abweichend verhält und sie ihren fordernden »Hilfeschrei« ausstößt.

»Hier will ich etwas über mich erklären«, hielt die amerikanische Autorin Rachel Aviv bereits im Alter von acht Jahren in ihrem Tagebuch fest, und auch der stark depressive Ray, die Inderin Bapu, die einem religiösen Wahn verfiel, die magersüchtige Hava, Naomi und auch Laura »spürten den Drang, über ihre Krankheit zu schreiben, selbst als ihnen klar wurde, dass die ihnen zur Verfügung stehende Sprache nicht ganz passte«. In Sich selbst fremd schreibt Rachel Aviv in einzelnen Kapiteln über diese Menschen und ihre psychischen »Ausnahmezustände«.

Kapitelübergreifend berichtet sie aber auch so offen wie berührend über sich selbst, stellt damit eine Nähe her zu den anderen Leidenden, um ihr Leben Kämpfenden. Avivs genauer Blick auf das institutionalisierte medizinische System, auf Methoden der Psychotherapie, auf psychiatrische Einrichtungen ist ein stark dokumentierender wie auch ein wissender, mitfühlender.

Sich selbst fremd will aber kein »Antipsychiatrie«-Buch sein, dafür ist die Singularität der »Fälle« zu offenkundig. Trotzdem schafft es ein Bewusstsein dafür, dass ein professionell erstelltes Krankheitsbild immer auch von einzelnen Faktoren abhängt, die sich weit außerhalb der psychisch kranken Person befinden.

Ein »Antipsychiatrie«-Buch ist es nicht, dafür ist die Singularität der »Fälle« zu offenkundig.

So vereinfacht wie überspitzt ausgedrückt spielt es für das Krankheitsbild eine Rolle, wann und wo die leidende Person an welchen Arzt gerät, wie gut das Gesundheitssystem gerade finanziell ausgestattet ist und welche Einschätzungen von Krankheiten oder ihre medikamentöse Behandlung gerade »en vogue« sind.

Auch gesellschaftlich akzeptierte Ressentiments, Diskriminierungen und Vorurteile spielen selbstverständlich in eine Krankheitsgeschichte hinein. Auf die psychotherapeutischen Ansätze zur Behandlung der afroamerikanischen Naomi, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt, hatte das ebenso Einfluss wie auf die der weißen »Überfliegerin« Laura, weshalb »bei Schwarzen Frauen eine Depression tendenziell eher unterbehandelt bleibt«, während sie »bei weißen Frauen, vor allem ehrgeizigen, häufig überbehandelt wird, damit sie ›alles haben‹«. Aviv schaut genau hin. Sie forscht. Den sechs Kapiteln schließen sich viele Seiten Anmerkungen sowie Nachweise an.

Sie trat beim »New Yorker« in die Fußstapfen der legendären Janet Malcolm

Rachel Aviv, 43 Jahre alt, lebt in Brooklyn und arbeitet seit 2013 als Redakteurin beim »New Yorker«. Ihre Themen kreisen um ethische Fragen, um Psychologie, Psychotherapie oder Psychoanalyse. Damit löste sie im Magazin die legendäre Janet Malcolm ab, die 2021 starb.

Für ihre Reportagen erhielt Aviv mehrfach Preise. Sich selbst fremd ist ihr Debütwerk, ein bestechend intelligentes Buch, in dem sich Empathie, der persönliche Bezug sowie minutiöse Recherche und fachliches Wissen gegenseitig ergänzen wie auch verstärken.

Ins Deutsche übersetzt wurde der genreübergreifende Text von Claudia Voit. Bereits 2022 war das Original unter dem Titel Strangers to Ourselves in Amerika erschienen und brachte es dort unter die Finalisten des National Book Critics Circle Award.

Und das ist die Vorgeschichte zum Buch: Gerade einmal sechs Jahre alt, hörte Rachel Aviv auf zu essen. Jom Kippur war vorbei, ihre Familie hatte das traditionelle Fasten eingehalten, war danach in den Alltag zurückgekehrt.

Mit sechs Jahren verweigerte sie jede Nahrung. Die Diagnose: »Anorexie«

Die kleine Rachel jedoch nicht. Sie verweigert weiterhin jede Nahrung. Das Mädchen, das dreimal in der Woche zum Erlernen der hebräischen Sprache eine jüdische Schule besucht, meinte, »eine Art unsichtbaren Draht zu Gott zu haben«. Die Diagnose im Krankenhaus lautete schließlich »Anorexie«, was einer Festlegung glich, einem »abgeschlossenen, vollständigen System der Wahrheit«.

Dass sich Rachels Eltern, die seit einem Jahr in Scheidung lebten, gegen die Empfehlung entschieden, das Kind in eine psychiatrische Klinik zu verlegen, war wohl ihr Glück. Ein paar Wochen später aß sie wieder. Und auch darum geht es in Sich selbst fremd: um »fehlende Geschichten, um die Facetten von Identität, die unsere Theorien über die Psyche nicht erfassen können«. Hintergründe nach vorne zu holen, verlangt nach genauem Hinsehen und Hinhören, nach »Komplexitätsfähigkeit«.

Als Autorin versucht Aviv, diesen Ansprüchen literarisch gerecht zu werden. Zu den Personen, deren Fälle sie vorstellt, liefert sie Mosaiksteinchen, die sich zu einem Bild fügen. Alles steht so wild wie bestechend neben-einander: Anekdoten, Familiengeschichten, soziale Hintergründe, Zitate aus Tagebüchern oder einfach nur Notizen.

Zudem bietet sie eine aufschlussreiche Tour d’Horizon durch die Psychia-
trie und ihre Geschichte in den Vereinigten Staaten, vom sinkenden Einfluss der Freud’schen psychoanalytischen Psychotherapie – hierzu beschreibt Aviv noch einmal den »Fall Ray Osherhoff«, der es in den 70er- und 80er-Jahren im Zusammenhang mit der Klinik »Chestnut Lodge« zu einiger Berühmtheit gebracht hatte –, bis hin zum stark gehirnbasierten, biologischen psychotherapeutischen Ansatz der späteren Jahre.

Mit Avis Forderung nach einer eigenen Handlungsfähigkeit von Menschen mit psychischen Problemen, mit deren Recht auf eine »eigene Realität« entlässt sie den Leser stark sensibilisiert.

Rachel Aviv: »Sich selbst fremd. Wahre Geschichten von psychischen Ausnahmezuständen«, Aus dem Englischen von Claudia Voit, Hanser Berlin, 2025, 300 S., 26 €

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