Interview

»Reaktion auf eine Krise«

Herr Diner, unter dem Dach des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig wird eine »neue Geschichte des Chassidismus« erarbeitet. Wie funktioniert dieses ehrgeizige Vorhaben?
Eine internationale Gruppe von zehn führenden Chassidismus-Forschern aus den Vereinigten Staaten, England, Polen und Israel führt dieses Projekt an unserem Institut durch, unter der Leitung von Professor David Biale aus Kalifornien. Als Kollektivwerk wollen die Wissenschaftler nach langer individueller und gemeinsamer Forschung von jetzt an in etwa zwei Jahren eine neue, zweibändige Geschichte des Chassidismus veröffentlichen – auf Englisch, Hebräisch und Deutsch.

Kurz gefasst – was ist Chassidismus?
Man kann den Chassidismus als eine pietistische Bewegung innerhalb des Judentums ansehen, die in Abstand zur traditionellen Textgelehrsamkeit vor allem auf emotionaler Unmittelbarkeit und Frömmigkeit basiert. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts bilden sich im östlichen Europa Höfe aus, deren spirituelle Führungspersönlichkeiten eine Gemeinschaft um sich herum scharen, die dem Rabbi gleichsam wie einem Magier folgt. Beim Chassidismus handelt es sich also um eine mystische Bewegung innerhalb der jüdischen »Orthodoxie«, die sich aber vom traditionellen, streng halachisch orientierten Judentum unterscheidet. In gewisser Hinsicht handelt es sich um eine heterodoxe Strömung. Ihr Gegner war das »rationale« Judentum der Mitnagdim.

Warum muss die Geschichte des Chassidismus heute neu geschrieben werden?
Es gibt ja die »alte« Geschichte des Chassidismus von Simon Dubnow, »Toldot ha-Chasidut«, die 1931 veröffentlicht wurde. Sie reicht aber nur bis 1815. Das am Dubnow-Institut erarbeite Werk dagegen erstreckt sich bis in die Gegenwart. Dabei soll Martin Bubers Werk über den Chassidismus nicht übergangen werden, auch wenn es sich hierbei eher um Geschichten als um Geschichte handelt.

Arbeitet das Forscherteam nur mit schriftlichem Quellenmaterial, oder wurde auch das Leben der Chassidim aktiv erfasst?
Ja, man will auch verschiedene aktuelle Gemeinden in Amerika und in Israel erforschen – soziologisch, ethnografisch und demografisch. Es geht also nicht nur um eine traditionelle Sicht aus dem Blickwinkel des 19. Jahrhunderts, sondern auch um Sozialverhalten in der Gegenwart – und um die Frage, wie etwa hochmoderne Formen der Kommunikation und ein eigenes Bildungswesen unter Bewahrung der Tradition funktionieren.

Ist es nicht schwierig, Chassidim – die sicherlich nicht alle von den Methoden der Forscher überzeugt sind – zur Mitwirkung an solchen Studien zu bewegen?
Ja, auf jeden Fall. Manche Fragen müssen indirekt beantwortet werden. Soziologen und Anthropologen wie Professor Samuel Heilman aus New York werten zum Beispiel ganz allgemeine Aussagen über bestimmte Stadtbezirke dort aus und führen verschiedene Daten zusammen. Ein sehr erhellendes Beispiel: Heilman stieß auf eine Häufung verarmter Familien in New York, die versuchen, ihren Kindern die bestmögliche Bildung angedeihen zu lassen. Wenn solche statistischen Daten in einem solchen und noch komplexeren Zusammenhang aufscheinen, dann kann man in bestimmten Vierteln davon ausgehen, dass man es mit chassidischen Familien zu tun hat, und daraus Schlüsse ziehen.

Es gibt ja viele verschiedene Höfe und Strömungen im Chassidismus – kann eine Gesamtgeschichte der Bewegung ihnen allen gerecht werden?
Studien dieser Art sind ja in gewisser Weise Tiefenbohrungen. So werden unter anderem ganz bestimmte Gestalten und Buchkulturen des Chassidismus untersucht. Das Forscherteam geht aber auch methodisch in die Breite. Marcin Wodzinki aus Wroclaw beschäftigt sich zum Beispiel mit Geografie und Demografie des Chassidismus – und zwar als dynamisches Konzept, an dem sich Veränderungen in Raum und Zeit ablesen lassen. Und natürlich haben viele der Forscher, die sich seit vielen Jahren mit der Bewegung befassen, in bestimmten Fragen voneinander erheblich abweichende Auffassungen – und dennoch haben sie beschlossen, ein gemeinsames Buch zu schreiben.

Wie kam es dazu, dass dieses Forschungsprojekt am Simon-Dubnow-Institut angesiedelt wurde?
Unser Institut ist darauf angelegt, größere und langfristige internationale Forschungen zu begleiten und durchzuführen. Hier besteht eine Struktur der Betreuung und der Antragstellung, die ja oft über Jahre reicht. Unsere Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) ist ein solches Großprojekt – und eben auch die neue Geschichte des Chassidismus, die von der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt wird. Und natürlich ist das letzte große und geradezu ikonische Werk zum Chassidismus von Simon Dubnow selbst verfasst worden, und so entstehen, wie im Judentum nicht ungewöhnlich, auch Traditionsketten.

Steht die »neue« Geschichte des Chassidismus in bestimmten Punkten im Widerspruch zur »alten« Geschichte?
Die »neue« Geschichte nimmt eher Paradoxien auf – so etwa den Umstand, dass der Chassidismus in einer Zeit auftrat, in der sich die jüdischen Institutionen, der »Kahal«, die jüdische Gemeindeautonomie und die traditionellen Autoritäten in einem Auflösungsprozess befanden. So ist der Chassidismus als eine »moderne« Reaktion auf eine Krise zu verstehen, auch wenn sie vormoderne Formen annimmt. Um diese und andere Fragen geht es.

Was ist für die Wissenschaft am heutigen Chassidismus so faszinierend?
Alle Nachweise deuten darauf hin, dass wir es faktisch mit einer starken demografischen Zunahme der Chassidim zu tun haben. Es ist dem Chassidismus gelungen, moderne und sogar postmoderne Anteile, etwa die Zugewandtheit gegenüber der Technik, mit einer auf charismatische Autoritäten ausgerichteten kommunitären Lebensweise zu verbinden. Auch hier ist der Chassidismus paradox: modern und zugleich vormodern – in seiner Verknüpfung eines stark gesetzesorientierten Verhaltens im Alltag mit modernen und postmodernen Phänomenen.

Mit dem Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig sprach Ayala Goldmann.

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025