Kunst

Prometheus in Venedig

Gilad Ratmans Video-Installation erinnert an eine Science-Fiction-Dystopie à la Michel Houellebecq. Foto: biennale

Lasst den Himmel einstürzen, wenn er zerbricht, werden wir aufrecht stehen und gemeinsam alles ertragen»: Skyfall, Titelsong des gleichnamigen James-Bond-Films, der Sängerin Adele unlängst Oscar-Gold eintrug, gilt als Ballade über Begräbnis und Wiedergeburt. Dieses Zwischenreich tut sich auf im israelischen Pavillon auf der 55. Kunst-Biennale in Venedig. Stehen wir am Rand der Atomkatastrophe, in der apokalyptischen Grauzone, an einem neuen Anfang?

Der Film- und Installationskünstler Gilad Ratman, geboren 1975 in Haifa und einer der jüngsten, je nach Venedig entsandten Vertreter Israels, hätte eine der begehrten Biennale-Auszeichnungen verdient, ging aber leer aus. Komplex das Szenario, das Ratman als mehrteilige ortsspezifische Installation mit verschiedenen Bedeutungsebenen im zweistöckigen israelischen Pavillon in den Giardini entwirft: fraglos eine Paraphrase auf die Gefahren zahlloser Abgründe, die dem 21. Jahrhundert eine erhöhte Nervositätsstufe bescheren.

Reise Zu Beginn blickt der Besucher in einen brunnenartigen Schacht, ein Erdloch mitten im Fußboden: architektonische Intervention als Vehikel für die Kernerzählung. Ratmans Projekt ist die fiktive unterirdische Reise einer kleinen Gruppe Menschen von Israel nach Venedig. Sie starten in einer Höhle ihrer Heimat und gelangen durch mutmaßlich subversive Kanäle – weshalb sollten sie sonst die Tür umgehen? – von unten in den israelischen Pavillon.

Auf der oberen Etage inszeniert Ratman The Workshop als Video-Mehrkanal-Projekt und vielschichtiges Projektionsfeld. Während in einem der Filme einzelne Mitglieder der Reisegruppe noch aus der Erde ans Licht drängen und einander sportlich aus dem unterirdischen Erdtunnelsystem ziehen, was mitunter an eine fröhliche Klettertour erinnert, zeigt parallel dazu eine andere Kamera ein Atelier, in dem Männer und Frauen in konzentriertem Ernst ihr Ebenbild in Ton formen, den sie von zu Hause mitgebracht haben. Die Kopfform muss in den Proportionen erfasst, die Gesichtszüge modelliert, der individuelle Ausdruck dem Material abgepresst werden. Und dann bekommen die gekneteten Geschöpfe ein Mikrofon in den Mund wie einen Knebel, um sie an ein Mischpult anschließen zu können zwecks Erzeugung stimmlicher Laute.

urlaute An dieser Stelle bekommt der Betrachter, den am Treppenaufgang bereits einige groteske Kopfskulpturen als erste Hinweise auf die rastlos erzeugten Gebilde zwischen Mensch und Primat in geisterbahnartigem Dämmer empfangen haben, Zugang zur Story – und Gänsehaut. Der Pavillon ist düster, seltsame gutturale Urlaute und das dämonisch Ritualisierte in der Manufaktur für menschenähnliche Kreatur schaffen eine Atmosphäre der Bedrohlichkeit. Die unaufhaltsame Ausweitung des audiovisuellen Endzeitempfindens ist dramaturgisches Programm. Ratman produziert ein Klima anhaltender Verunsicherung.

«Meine Arbeiten zeigen die Bedeutung der Gemeinschaft, Grenzen des Selbst und Formen von Widerstand», hat Gilad Ratman gesagt. Eine lineare Ursache-Wirkung-Verknüpfung ist ihm nach eigener Aussage weniger wichtig als die Koexistenz von Poesie und Pathos in einem offenen Raum. Vorrangig interessieren ihn existenzielle Situationen mit physischen Restriktionen. Seine Fähigkeit, das Irrationale im Menschen ebenso anzusprechen wie das Instinktive kennzeichnet seine Arbeit für Venedig. Das Opus venezianum wird aufgeladen mit Verweisen auf Schöpfungsmythen, gentechnische Replikationsverfahren, schließlich auf eine Science-Fiction-hafte Errettungsutopie des Menschengeschlechts unter undurchsichtigen Bedingungen.

abgründe Jeder ist sein eigener Prometheus im Workshop von Gilad Ratman. Seinem Biennale-Beitrag liegt ein Drehbuch zugrunde, das antike Sagen mit neuzeitlichen Vorstellungen technischer Superiorität verknüpft, die der menschlichen Inferiorität etwa mit Prothesen zuleibe rücken. Dass in die Münder der Menschenbilder, die Ratmans Protagonisten von sich produzieren, Mikrofone gestopft werden, erzeugt die brutale Note. Offenbar muss ein Code weitergegeben werden. Stimmen, Sprache sind den menschlichen Blaupausen zu applizieren. Es scheint gerade so, als wäre man in Michel Houellebecqs Science-Fiction-Roman Die Möglichkeit einer Insel gelandet, wo der französische Schriftsteller den Klonexperimenten der Raëlianer-Sekte über die Schulter sieht und Kopien Verstorbener vorstellt, denen Erinnerungsvermögen wie Erfahrungsschatz mitgegeben werden können. Hätte Gilad Ratman die Regie geführt, hätte der Film wohl kaum gefloppt.

Der verführerischen Kraft des Kinobildes ist sich Ratman nicht nur bewusst, er stellt sie mit seinen Mitteln profund her. Der Professor an der Jerusalemer Bezalel-Kunstakademie, der sich selbst und Freunde schon für eine künstlerische Arbeit in einem Sumpfgebiet des Arkansas River in blubbernden Schlamm gefilmt hat, weiß, wie man untergeht. Menschen mutieren in seinem Oeuvre immer wieder zu Mischwesen, stoßen vor an die Grenzen des Individualistischen und in undurchsichtigen Gruppenverbänden in Feuchtgebiete. Ratman, der in New York und Tel Aviv lebt, richtet sich gern ein in Wäldern, Wüsten, Morast – unwirtlichen Gefilden, in denen Menschen zum Äußersten gehen und zwangsweise in sich. Dabei verzichtet er auf einen traditionellen Plot, jedoch nicht auf die Segnungen der Postproduktion.

preise Der Künstler Liam Gillick nominierte Gilad Ratman im Jahre 2010 für den Luma Foundation Discovery Award, Rencontres d’Arles, 2011 erhielt er in Israel den Anselm Kiefer Award der Wolf Foundation. Hierzulande gab es bislang bloß zwei Soloausstellungen Ratmans in der Karlsruher Ferenbalm-Gurbrü-Station. Zu sehen waren dort seine Hauptwerke Che Che the Gorgeous, The Multipillory und The 588 Project. Die kleine engagierte Galerie von Lukas und Sebastian Baden hatte die erfolgreichen Videoinstallationen, die zuvor im New Yorker MoMA/ PS.1 und dem Garage Center for Contemporary Art in Moskau liefen, nach Deutschland geholt. Das Besondere an den Arbeiten, sagt Lukas Baden, «ist der schmale Grat zwischen Zivilisation in Form der technischen Mittel und Barbarei in Form der rohen Gesten und kryptischen Laute, die Gilad Ratman einsetzt».

In Venedig halten sich bei Ratman Spiel und Ernst die Waage, die dialektische Beziehung zwischen Natur und Kultur ist ergebnisoffen. Wer die Oberhand gewinnen wird, ist selbst am Ende des Tunnels schwer auszumachen. Eine Erleichterung freilich, ans Tageslicht zu kommen. Wie schön, dass die düstere Pavillonthematik blauer Himmel überwölbt. Für den Augenblick noch.

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 27.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. November bis zum 3. Dezember

 27.11.2025

Fernsehen

Zieht Gil Ofarim ins Dschungelcamp? 

RTL kommentiert noch keine Namen - doch die Kandidaten-Gerüchte um Gil Ofarim und Simone Ballack sorgen schon jetzt für reichlich Gesprächsstoff

von Jonas-Erik Schmidt  27.11.2025

Rezension

Ein Feel-Good-Film voller kleiner Wunder

Ein Junge, der nicht laufen kann, Ärzte, die aufgeben, eine Mutter, die unbeirrt kämpft. »Mit Liebe und Chansons« erzählt mit Herz und Humor, wie Liebe jede Prognose überwindet

 27.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  27.11.2025

Kino

Echte Zumutung

Ronan Day-Lewis drehte mit seinem Vater Daniel als Hauptfigur. Ein bemühtes Regiedebüt über Gewalt und Missbrauch

von Maria Ossowski  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Ausmalen gegen die Realität

Kinderbücher sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, Kinder niederschwellig zu prägen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025