Short Stories

Philosophie im Central Park

Fesselt von der ersten bis zur letzten Geschichte: Grace Paleys Kurzgeschichten Foto: Schöffling

Alle beneiden Amerika um die Vielfalt und Vollendung, die das Genre der Short Story dort erlangt hat. Ihrem Wesen nach erzählt die Short Story einen Ausschnitt aus dem Leben von Menschen. Es gibt keinen langen Anlauf, keine Disposition und meist auch keinen Ausblick. Sie lebt von der Originalität der kleinen Geschichte, zuweilen auch von ihrer Alltäglichkeit. Auf die Geschichten der 2007 gestorbenen großen alten Dame der amerikanischen Short Story, Grace Paley, trifft das alles auch zu. Dennoch sind Die kleinen Widrigkeiten des Lebens (2013) oder die jetzt erschienene Sammlung Ungeheure Veränderungen in letzter Minute fast ein eigenes Genre.

Empathie Grace Paley wurde als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer 1922 in New York geboren. Ihre Storys spiegeln selbst an ganz »unschuldigen« Stellen ihr Leben als politische Aktivistin: Sie war in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung engagiert. Alle Geschichten spielen in New York, oft im jüdischen Milieu, immer in Kreisen armer, sozial benachteiligter Menschen. Der Zweite Weltkrieg habe »aus Juden Amerikaner und aus Negern Juden« gemacht, lässt sie in einer der 17 Storys kritisch sagen. Sie erzählt voller Empathie zu ihren Figuren, die nicht immer sympathisch sind.

Dabei holt sie nicht biografisch aus, um sie zu charakterisieren – ihr genügen ein paar Seiten, um die je einzigartige Individualität erstrahlen zu lassen. Immer wieder sind es Kinder, die ihre Aufmerksamkeit erregen, oft ihre alleinerziehenden Mütter, die von den Erzeugern im Stich gelassen wurden. Dass solche Verhältnisse schicksalsbedingt oder selbstverschuldet sind, auf den Gedanken kommt man bei der Lektüre der Story nicht. Da ist immer – manchmal nur in einem Nebensatz versteckt – eine politische Analyse, eine Anklage dahinter.

Von den längeren Short Storys ist vielleicht »Faith im Baum« die schönste und ergiebigste. Die in mehreren Geschichten als Hauptfigur auftretende Faith sitzt im Central Park auf einem Ast inmitten von befreundeten Frauen und ihren Kindern. Sie beobachtet, reflektiert, spinnt sich etwas zurecht, hält innere Monologe, fabuliert über Gott und die Welt: »In puncto Kultivierung von Wahrheitsliebe und Ehrenhaftigkeit haben, glaube ich, die Juden was kapiert. Macht euch kein Bildnis, imitiert keinen Gott. Schließlich ist Er auf Seinem Gebiet, den bildenden Künsten, überragend.

Überlasst dem Einen, der die lohfarbene Wüste, den blauen Van-Allen-Gürtel und die grünen Berge von Neuengland erschaffen hat, die Zuständigkeit für die Schönheit, von der Er offenbar was versteht, und dem Menschen, der in Jerusalem die Bereitschaft zur Vergebung und in Troja Überlebenskünste zeigte, überlasst die Zuständigkeit für das Gute.« Das ist alles natürlich nicht so ernst gemeint, deshalb fährt die Autorin fort: »›Faith, hörst du mal mit deiner ewigen Philosophiererei auf‹, sagte Richard, mein Erst- und missbilligend Geborener.«

Interview Erschütternd ist die kürzere Geschichte »Das kleine Mädchen«. Das »Gespräch mit meinem Vater« enthält so etwas wie Paleys Poetologie, die im Übrigen in einem am Ende des kostbar ausgestatteten Bandes abgedruckten Interview aus dem Jahre 1978 näher ausgeführt wird. Ein besonders Kleinod ist »Die Langstreckenläuferin«, in der es die Heldin überraschend in die Wohnung verschlägt, in der sie aufgewachsen ist, in der jetzt eine Schwarze mit ihren Kindern lebt und in der sie als »Zufallsgast« einige Wochen bleibt. Die Eingangsgeschichte »Wünsche« handelt anhand der um 18 Jahre verspäteten Rückgabe von Büchern in der Bibliothek von menschlichen Schwächen, ist selbstironisch, aber nicht autobiografisch.

Am Ende des Bandes erschließt eine Zeittafel Leben und Werk der Autorin. Ein Glossar erklärt Ungewöhnliches: »Der Ausdruck ›Irische Zwillinge‹ bezeichnet abwertend Geschwister, die im Abstand von neun bis zwölf Monaten geboren sind.« Korrekt wird der Ausdruck mit der hohen Geburtenrate Irlands erklärt. Auch ohne diese nützlichen Hilfen lesen sich die Short Storys in der wunderbaren Übersetzung von Sigrid Ruschmeier so, dass sie nicht nur etwas für »Zwischendurch« sind. Die große Kunst der aufgeklärten und engagierten Ostküsten-Amerikanerin fesselt von der ersten bis zur letzten Geschichte.

Grace Paley: »Ungeheure Veränderungen in letzter Minute«. Storys. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Schöffling, Frankfurt a.M. 2014, 255 S., 19,95 €

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  07.12.2024

Aufgegabelt

Unser Rezept der Woche: Süße Reiskugel

Rezepte und Leckeres

 07.12.2024

Kulturkolumne

Keine Juden – kein Jesus

Warum Noa Cohen die perfekte Jungfrau Maria ist

von Sophie Albers Ben Chamo  07.12.2024

Essay

Da fehlt doch was …

Warum die Hochschulforschung dringend mehr jüdische Gegenwart wagen sollte. Ein Plädoyer

von Dani Kranz  07.12.2024

Aussteiger

Neues vom »Grünen Prinzen«

Mosab Hassan Yousef aus Ramallah ist Sohn des Hamas-Gründers – und steht unverrückbar an der Seite Israels. Nun hat er sein neues Buch vorgelegt

von Philip Fabian  07.12.2024

Paris

Roman Polanski von Verleumdungsvorwurf freigesprochen

Auch die Forderung der Schauspielerin Charlotte Lewis nach Schadenersatz ist abgewiesen

 05.12.2024

Porträt

»Ich bin ein Mischkonzern«

Rachel Braunschweig ist eine der erfolgreichsten Schweizer Schauspielerinnen und hat auch jenseits von Theaterbühne und Filmrollen viel zu sagen

von Nicole Dreyfus  05.12.2024

Los Angeles

Bob Dylan über Timothée Chalamet: »Timmy ist ein brillanter Schauspieler«

Chalamet soll Bob Dylan in einer neuen Biografie spielen. Den Singer-Songwriter scheint das zu freuen

 05.12.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 05.12.2024