Gesellschaft

Ohne Gott und jeder für sich

»Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen«: Plünderer in London Foto: Reuters

Wer kennt nicht Penny Lane, jene inzwischen schon über 40 Jahre alte Hymne der Beatles auf die »High Street«, die Haupt- und Geschäftsstraße ihres heimatlichen Liverpool, die Paul McCartney im Jahr 1967 mit heiterer Piccolotrompete feierte.

In Penny Lane gibt es den Friseur mit seinem Schaufenster voller Kundenporträts, den Feuerwehrmann mit einem kleinen Bild der Queen in seiner Tasche, die hübsche Krankenschwester, die Mohnblumen als Weltkriegsandenken verkauft, und den von den Kindern ausgelachten Banker, der nie einen Regenmantel trägt – vermutlich, weil er als Einziger in der Straße einen »motor car« besitzt. Von den Nächten in Penny Lane ist in dem Lied zwar nicht die Rede. Aber sie sind gewiss ruhig. Wenn Penny Lane Feinde hat, dann nicht im Inneren.

»anomie« Doch Penny Lane ist abgebrannt, seit Anfang des Monats in London, Birmingham und anderen englischen Städten tagelang Häuser in Flammen aufgingen, der Mob Geschäfte sowie Wohnungen plünderte und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. Nicht nur in Großbritannien wird seitdem die Frage gestellt, was mit der Gesellschaft los ist. Und in den Medien kursiert ein bis dahin nur unter Fachsoziologen geläufiges Wort: »Anomie«.

Der Begriff wurde vor mehr als hundert Jahren von dem französischen Soziologen Émile Durkheim (1858-1917) geprägt und fließt wie ein von vielen Quellen gespeister Fluss durch die Gedankenwelt des lothringischen Rabbinersohns. »Anomie« bezeichnet bei Durkheim den individuellen und kollektiven Verlust sozialer Normen und, daraus entstehend, gesellschaftlichen Zerfall.

Zuerst taucht der Begriff in seinen Studien über die verschärfte Arbeitsteilung in der Frühindustrialisierung auf, als die Verteilung von Gütern immer marktwirtschaftlicher organisiert und die Konkurrenz um Waren und Konsum folglich immer intensiver wurde. Besonders in Zeiten von Wirtschaftskrisen drohe die Entfesselung der unter der Oberfläche stets brodelnden Anomie, schreibt Durkheim: »Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekannten Genüssen, nach Freuden ohne Namen, die aber sofort ihren Geschmack verlieren, sobald man sie kennenlernt.

Wenn dann der kleinste Rückschlag kommt, hat man keine Kraft, ihn auszuhalten. Das Fieber fällt, und man erkennt, wie steril dieses ganze Durcheinander war und wie alle diese unendlich übereinandergehäuften neuen Sensationen keine solide Grundlage für ein Glück bilden könnten ...«

werteverlust Die in Konjunkturzyklen verlaufende Wirtschaft und die dadurch immer wieder angeheizten und dann zwangsläufig enttäuschten Konsumträume werden nach Durkheim von einem noch zersetzenderen Prozess begleitet, der schleichenden Säkularisierung.

Vor allem der Verlust der Religion als Trostspenderin sowie als System ethischer Eingrenzung des triebgesteuerten Menschen stürze Individuum und Gesellschaft in den Abgrund. Auf Religionsverlust folge unweigerlich die Desintegration der Gesellschaft selbst, weil den Individuen durch den Glaubensverlust ihre wichtigste Orientierung in Lebenskrisen abhandengekommen sei.

Beschreibt das nicht auch die Lage heute, mehr als hundert Jahre später? Und nicht bloß in Großbritannien. In Frankreich brannten 2005 die Vorstädte. Auch um Deutschland macht das Phänomen keinen Bogen. Zwar gibt es hier (noch) keine Krawalle britischen oder französischen Ausmaßes, obwohl Polizisten das nicht für ausgeschlossen halten. Aber in Berlin brennen seit Wochen jede Nacht Autos. Und gerade haben Lehrer der Hauptstadt wieder einmal Vandalismus und Gewalt als Normalzustand an manchen Schulen beklagt.

härte Was Beobachter bei den Krawallen in England schockierte, war nicht nur die Gewalt an sich. »Riots« hat es in den Londoner Bezirken Brixton und Tottenham, von wo die Unruhen ausgingen, immer wieder gegeben. Früher entstanden sie aus Armut und ethnischer Ausgrenzung.

Doch die Plünderer in Tottenham und anderswo waren diesmal keineswegs nur arm oder schwarz. Auch Kinder der weißen Mittelschicht waren darunter. Manche der Beteiligten standen fest im Beruf, sogar auf der Schwelle zu einer vielversprechenden Zukunft. Selbst eine Millionärstochter geriet in den anomischen Sog, in dem die Grundwerte der Gesellschaft weggespült zu werden drohten.

Die britische Regierung versucht, dieser Anomie mit Härte zu begegnen. Schluss mit den milden britischen Polizeimethoden. Tag und Nacht amtierende Schnellgerichte fällen massenhaft Urteile. Familien von Plünderern sollen ihre Sozialwohnungen verlieren. Bestraft wird hart, gleichgültig, wie reuevoll die Täter sich im Nachhinein zeigen. Bei früheren Unruhen wurde oft die Polizei wegen übertriebener Härte und Rassismus gerügt. Diesmal geraten die Ordnungshüter wegen angeblicher Nachgiebigkeit und anbiedernder politischer Korrektheit ins Visier von Politik und Presse.

demut Émile Durkheim hätte von derlei Reaktion wahrscheinlich wenig gehalten. Denn Anomie, so seine These, entsteht nicht nur aus einem Zuviel an Freiheit, sondern auch aus einem Zuwenig. Wem ein Übermaß an Regel und Normen aufgebürdet wird – Durkheim nennt als klassisches Beispiel dafür den Unteroffizier in einer Armee – gerät in eine Situation, die der individuellen Psyche keinen Spielraum lässt.

Ergebnis sind anomische Handlungen wie Selbstmord oder ein zerstörtes Beziehungsleben. Durkheim war Franzose und ein Kritiker des angelsächsischen Pragmatismus, philosophisch auch Instrumentalismus genannt. Diese Denkschule, so der Soziologe, vermenge, ja identifiziere das »Wahre« und das »Nützliche«. Der Pragmatismus in seinem legitimen Drang, den Menschen zum Herrn des eigenen Schicksals zu erheben, habe das Gespür dafür verloren, dass die Wirklichkeit nicht unendlich formbar und geschmeidig ist.

Als Sohn eines Rabbiners hätte Durkheim sicherlich auch die britische Zivilreligion, den Kult um »Britishness«, hinterfragt. Nationalismus, egal wie aufgeklärt, kann dem modernen Menschen nicht das gleiche Maß an psychischem Schutz bieten, wie die klassische Religion es vermag. Demut gegenüber dem Schicksal und dem, was wir von der Zukunft dieser Welt erwarten, hat Émile Durkheim Reichen wie Armen immer wieder nahegelegt. Damit in Penny Lane und anderswo zwar keine heile Welt, aber wenigstens wieder eine freundliche Heimat entstehen kann.

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