Romandebüt

»Noch nah an der Kindheit«

Dana Vowinckel über ihre 15-jährige Protagonistin Margarita und den Zwiespalt, als Jüdin in Deutschland politisch über Israel zu schreiben

von Ayala Goldmann  27.08.2023 07:49 Uhr

Die Schriftstellerin: Dana Vowinckel ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Foto: Chris Hartung

Dana Vowinckel über ihre 15-jährige Protagonistin Margarita und den Zwiespalt, als Jüdin in Deutschland politisch über Israel zu schreiben

von Ayala Goldmann  27.08.2023 07:49 Uhr

Frau Vowinckel, mit 25 haben Sie beim Bachmann-Wettbewerb gelesen, mit 27 veröffentlichen Sie jetzt Ihren ersten Roman. Eine Ihrer Hauptfiguren ist der Kantor Avi. Wie haben Sie ihn gefunden?
Ich fand es immer schon spannend – egal, in welcher Synagoge ich war –, dass Kantoren so schillernde, aber ein bisschen enigmatische Figuren sind. Ich habe immer wieder auch über die Ausdauer nachgedacht, die körperliche Leistung, wenn man an den Hohen Feiertagen in der Synagoge steht, und da singt jemand, der an Jom Kippur wahrscheinlich sogar noch fastet, einen ganzen Tag lang.

Ihr erster Satz heißt: »Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend.« Das Dilemma jeder jüdischen Autorin: Erkläre ich religiöse Begriffe, oder lasse ich sie unkommentiert?
Das habe ich natürlich zusammen mit meiner Lektorin sehr genau austariert. Wir wollten nicht, dass jüdisches Leben als etwas Fremdes, zu Erklärendes markiert wird. Es geht mir auch um die Schönheit der Gebete, um die Musikalität der Liturgie, die Verbindung dazwischen, die ein Kantor herstellt. Es gibt ein Register am Ende des Buches. Und wenn man neugierig ist, kann man vielleicht auch im Internet nachschauen, was gewisse Begriffe bedeuten. Ich glaube aber, man kann den Roman auch lesen, ohne überhaupt je ins Register zu schauen oder zu googeln.

Sie teilen Spitzen aus: etwa gegen die philosemitische Bekannte von Avi, die immer weiß, welche Bücher sie einem Juden mitbringen sollte …
Ich finde es interessant, dass Sie das so lesen, weil ich das Gefühl habe, es ist einfach ein Typus, und man kann das weiterspinnen. Es gibt eine enorme Vielfalt im jüdischen Leben in Berlin, aber einfach sehr viel Widerspruch. Ich glaube, dass man den Widerspruch auch aushalten kann. Und ich hoffe, dass der Roman das tut. Ich kenne auch ein gewisses Amüsement, weil mein Vater säkularer amerikanischer Jude ist. Wir haben irgendwie Schabbat gefeiert zu Hause und waren ab und zu in der Synagoge, wenn wir uns gegenseitig überreden konnten. Und mein Vater als Einwanderer in diese jüdische Gemeinschaft in Deutschland hatte auf einmal ein deutsch-jüdisches Kind, das konvertieren musste – was ich wahrscheinlich in den USA nicht getan hätte.

Ist das ein typisch deutsch-jüdisches Phänomen? Diese Fragen: »Wer ist wie jüdisch, wer ist wie echt, wer ist konvertiert, wer ist nicht konvertiert?«
Eine gute Frage. Es ist auf jeden Fall ein Thema für mich. Und ich frage mich, ob es irgendeinen Juden in diesem Land gibt, der sich wirklich zugehörig und wirklich jüdisch fühlt. Weil ich glaube, alle Leute, die ich kenne, laufen herum und denken, alle anderen machen es besser, alle anderen sind mehr Juden. Auch für Avis Tochter Margarita ist das ja eine zentrale Frage im Roman: Bin ich eine »richtige« Jüdin? Auch für mich selbst denke ich die ganze Zeit, ich sollte öfter in die Synagoge gehen, mich mehr beteiligen. Ich sollte endlich einmal anfangen, mich koscher zu ernähren. Den Schabbes wirklich Schabbes sein lassen. Und dann zünde ich alle drei Wochen meine mickrigen Kerzen an und bin trotzdem zufrieden damit. Jetzt habe ich eigentlich schon auf die Frage: »Wie autobiografisch ist das Buch?« geantwortet.

Ich wollte die Frage nicht stellen.
Ich glaube, man muss bestimmte Dinge kennen, um über sie zu schreiben. Man muss auch Herzschmerz kennen, um über Herzschmerz zu schreiben. Es geht nicht nur um Identität und Zugehörigkeit, sondern es ist auch ein Roman darüber, wie furchtbar es ist, mit 15 überhaupt einen Körper zu haben.

Ihre 15-jährige Heldin Margarita hat zwei Lover: in Berlin diesen ungepflegten Deutschen Nico, der sofort im Zusammenhang mit Israel anfängt, von Kolonialismus zu reden. Und in Tel Aviv den Israeli Lior, wahnsinnig sexy, mit unglaublicher Anziehungskraft. Was haben Sie über diese beiden Jungen beim Schreiben gedacht?
Ich kann ganz schwer darüber sprechen, was ich mir bei Sachen gedacht habe. Für mich sind sie keine Prototypen. Sie sind Symptome von Margaritas Schmerz und auch ambivalent. Lior ist nicht einfach ein Arschloch, wenn er sich entzieht. Und Margarita hat kein Anrecht auf ihn. Mir war es vor allem wichtig, diese Protagonistin, die ich sehr liebe, als verlässliche Erzählerin zu zeigen. Aber als Leserin muss man sich natürlich auch überlegen, wie Lior die Beziehung wahrnimmt, ob er sich vielleicht reduziert fühlt, übergriffig behandelt, exotisiert. Wir sind alle davon nicht frei. Und Margarita ist nicht einfach die arme Gute, die irgendwie durch die Kontinente taumelt, sondern sie ist auch gewieft.

In dem Roman »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« von Daniela Krien ist die Protagonistin 16 bis 17 Jahre alt, in der Verfilmung von Emily Atef wurde sie drei Jahre älter gemacht. Haben Sie auch eine »jugendfreie« Variante erwogen?
Nein, aber es stand lange im Raum und wurde immer wieder in verschiedenen Werkstätten vorgeschlagen. Aber ich wollte unbedingt, dass Margarita 15 ist – und meine Lektorin und meine Agentin auch. In meinem Kopf war sie von Anfang an als 15-Jährige da.

Es geht darum, dass 15-Jährige Sex haben.
Es geht um Margarita. Sie steht an der Schwelle zum Wechsel in die Oberstufe, ist noch nah an der Kindheit, aber auch am Erwachsenwerden, das ist eine so besondere, schwierige Zeit, die ich abbilden wollte. Und es sollte glaubhaft sein. Es ist ein realistisch erzählter Roman. Im Handel ist er verschlagwortet für »Ab 14 Jahren«, und das finde ich auch gut. Man kann 15-jährigen Lesern eine Margarita zumuten, glaube ich. Und es hat mir irre Spaß gemacht, sie so zu schreiben. Wäre sie 17, wäre es ein anderer Text.

Margarita hat amerikanische Großeltern, einen Vater in Berlin, eine Mutter in Israel. Sie trifft zum Schluss eine ganz bewusste Entscheidung … wie Sie selbst für das Judentum?
Es ist kein autobiografisches Buch! Mein Vater ist nicht Chasan. Ich bin nicht bei einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, sondern bei getrennten Eltern. Meine Mutter war immer präsent in meiner Kindheit und Jugend. Für das Judentum habe ich mich auf eine Art entschieden, also mit elf für die Konversion, auf eine andere Art auch nicht, denn ich bin jüdisch aufgewachsen, und es fühlt sich weniger an wie eine Entscheidung als wie eine Tatsache, dass dies Teil meines Denkens und Schreibens ist.

Gegen Ende des Buches geht es um den Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019, um antisemitische Erfahrungen, um Mikroaggressionen. Wollten Sie bewusst politisch werden?
Es wäre genauso politisch gewesen, hätte ich nicht über Halle geschrieben. Ich finde, das bin ich den Menschen schuldig, die dort waren und die dort gestorben sind. Ich finde es auch schwierig, das als Zäsur im Text zu begreifen. Es war keine Zäsur. Nazis morden schon immer in Deutschland. Es gab den NSU, ein Jahr später den Anschlag von Hanau, da waren wir mitgemeint. Für mich war es sehr wichtig, darüber zu schrei­ben, was Halle gemacht hat mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und in Berlin. Ich bin keine Politikerin, deswegen darf ich die Sachen auch ambivalent halten in meinen literarischen Texten. Aber ich habe eine sehr eindeutige Haltung, die meine Figuren auch mittragen.

Politisch sind auch einige Szenen, die in Israel spielen. Lior nimmt an einer Demonstration gegen »Bibi« teil …
Ja, der Roman spielt 2023. Ich hatte die Szene vor der letzten Parlamentswahl in Israel geschrieben. Aber ich habe sie nochmal geändert, als klar wurde, was gerade passiert. Komischerweise habe ich vorher viel geschrieben, was schrecklicherweise danach zu den realen Entwicklungen gepasst hat. Ich glaube, ein politisches Schreiben über Israel ist extrem schwierig in Deutschland. Einerseits bin ich keine Israelin, manchmal wäre es mir am liebsten, wenn die Leute mich damit in Ruhe lassen. Aber wenn ich andererseits möchte, dass dieser Ort mein sicherer Hafen ist, dann muss ich mich irgendwie positionieren. Ich empfinde das als enormen Zwiespalt im Schreiben und im eigenen politischen Sein. Ich muss es trotzdem tun.

Mit der Autorin sprach Ayala Goldmann.

Dana Vowinckel: »Gewässer im Ziplock«. Roman. suhrkamp nova, Berlin 2023, 362 S., 23 €

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