Lebensmelodien

Musik ist die beste Rache

In der Berliner Apostel-Paulus-Kirche erklangen sie zum ersten Mal im Frühjahr 2019. Nun sind die »Lebensmelodien« bei der UN-Vollversammlung am 27. Januar zum Internationalen Holocaust-Gedenktag zu hören. Als Konzerte zur Erinnerung an jüdische Komponisten, die von den Nazis verfolgt wurden, setzen sie seit ihrem Auftakt vor fast sechs Jahren starke musikalische und erinnerungspolitische Akzente: in Berlin und bundesweit, in Rom, Luxemburg, Kopenhagen und jetzt auch in New York.

Am Montag bei den Vereinten Nationen wird ein kleines hochprofessionelles »Lebensmelodien«-Ensemble (unter anderem Claudio und Oskar Bohórquez, Peter Riegelbauer, Francesca Zappa, Christophe Horák, Michael Cohen-Weissert und Nur Ben Shalom) das musikalische Programm bestreiten. Die amerikanische Schauspielerin Tovah Feldshuh, bekannt aus der TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (1978) und zuletzt aus dem Netflix-Hit Nobody wants this (2024) liest dazu Texte über die Werke und Schicksale von Menschen, von denen mehr im Gedächtnis bleiben soll als nur die Tatsache, dass sie Opfer der Nationalsozialisten waren.

Eine Version des Pessach-Liedes »Chad Gadja« von Shmuel Blasz

Die Musikerinnen und Musiker spielen unter anderem den Niggun »Ribbon Olam« eines Vishnitzer Chassiden. Unter den Melodien ist eine Version des Pessach-Liedes »Chad Gadja«, komponiert von
Shmuel Blasz, einem jüdischen Musiker aus Ungarn. Erzählt wird auch die Geschichte von Pnina, die als jüdisches Kind während der deutschen Besatzung bei einer ukrainischen Familie versteckt wird, flieht und dabei ein Lied hört, das ihre Erinnerung an ihre Muttersprache Jiddisch wieder wachruft. »Es ist unsere Reise gegen das Vergessen«, sagt Michael Raddatz, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg, in Berlin kurz vor dem Abflug nach New York.

»Es ist unsere Reise gegen das Vergessen«, sagt Superintendent Michael Raddatz.

Welche Politiker bei der Veranstaltung sprechen werden, blieb bis Redaktionsschluss (Dienstagabend) noch unklar. Auf den UN-Auftritt folgt am 28. Januar ein Konzert im German House, dem deutschen Konsulat in New York, und ein Auftritt mit pädagogischem Begleitprogramm in der International School der Vereinten Nationen.

Premiere war der Karfreitagsgottesdienst am 19. April 2019

Die Idee zu den Gedenkkonzerten hat Raddatz gemeinsam mit dem israelischen Klarinettisten Nur Ben Shalom entwickelt, den der Theologe am 9. November 2018 kennenlernte – bei einer Gedenkveranstaltung vor der ehemaligen Synagoge in der Münchener Straße in Berlin. Daraus entstand eine Freundschaft zwischen dem Deutschen und dem Israeli, die bis heute hält, und die Karriere eines Projekts, das von Anfang an kein Risiko scheute.

Denn die Premiere der »Lebensmelodien« war nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein theologisches Wagnis. Beim Karfreitagsgottesdienst in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg am 19. April 2019 – dem 75. Jahrestag des Beginns des Aufstandes im Warschauer Ghetto –, spielte Nur Ben Shalom auf der Klarinette Melodien, die zunächst an herkömmlichen Klezmer erinnerten – aber nur in den ersten Tönen, bis sich herausstellte, wie eigen die Kompositionen sind, die der Israeli interpretierte. Die Predigt brachte gleichermaßen die Vernichtung der europäischen Juden und die Kreuzigung Jesu zur Sprache.

Außerdem wurde aus einem Abschiedsbrief der Großtante von Nur Ben Shalom vorgelesen, der Pianistin Salomea Ochs-Luft, die 1943, kurz vor ihrer Deportation aus dem Ghetto von Tarnopol, einen Abschiedsbrief mit den Worten beendete: »Lebt wohl, lasset es euch recht gut gehen und wenn ihr könnt, dann nehmt einst Rache!« Für Christen, Juden, Muslime, Atheisten und andere, die in die Schöneberger Kirche gekommen waren oder die Übertragung im »Deutschlandfunk« verfolgten, bleibt dieser Gottesdienst eine unvergessene Herausforderung.

Nur Ben Shalom organisierte eine Audienz bei Papst Franziskus

Daran schlossen sich mehrere Konzerte in der Apostel-Paulus-Kirche und anderen Orten bundesweit an. Der Israeli Nur Ben Shalom organisierte den »Lebensmelodien« sogar eine Audienz bei Papst Franziskus.

Wichtiger als medienwirksame Auftritte aber ist ein Bildungsprojekt, bei dem sich bis heute Tausende von Schülern mit den »Lebensmelodien« auseinandergesetzt haben. Wie zum Beispiel in Ulm, wo Werke von Peter Ury aufgeführt wurden. Der jüdische Komponist, der aus Ulm stammt, konnte 1939 als Kind nach London fliehen. Sein Sohn David Ury, der in England lebt und als Gast am »Lebensmelodien«-Konzert am 9. November 2024 in der Apostel-Paulus-Kirche teilnahm, bedankte sich auf der Bühne mit den Worten: »Musik ist die beste Rache!«

Tausende von Schülern haben sich schon mit den »Lebensmelodien« auseinandergesetzt.

Doch auch die beste Rache gibt es nicht umsonst. Bis November 2024 konnten die »Lebensmelodien« mit einer Förderung durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus rechnen. Das Bildungsprojekt wurde von Friede Springer unterstützt. Nun sind die Zuwendungen ausgelaufen. »Jetzt ist es so, dass der zahlt, der uns einlädt«, erläutert Michael Raddatz. Bei der Reise nach New York ist dies das Auswärtige Amt in Berlin.

Ohne regelmäßige Förderung könnte es schwierig werden, das Bildungsprojekt in bisherigem Umfang aufrechtzuerhalten – ausgerechnet jetzt, wo es nötiger scheint als je zuvor. 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz leben nur noch wenige Zeitzeugen. Vom Holocaust wollen immer mehr Menschen nichts mehr hören, manch einer erhebt lieber ungerechtfertigte Genozid-Vorwürfe gegen Israel.

In dieser Situation kann der emotionale Zugang durch die Musik helfen, den die »Lebensmelodien« ermöglichen, glaubt Michael Raddatz. Das sei besonders für jüngere Generationen wichtig: »Dadurch kann man auch der Ritualisierung des Gedenkens entgehen.«

Die Zeremonie mit den »Lebensmelodien« am 27. Januar wird live im Internet übertragen.

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025