Film

Mitreißend kitschig

»West Side Story« 2.0: In den Slums von New York tragen zwei Jugendgangs, die puerto-ricanischen Sharks und die einheimischen Jets, ihre Revierkämpfe aus. Foto: © 2020 Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved.

Kulturelle Aneignung de luxe würde heute wohl etwas reflexartig der Vorwurf lauten. Da hatten sich in den 50er-Jahren der Komponist Leonard Bernstein, der Ende November verstorbene Texter Stephen Sondheim sowie der Drehbuchautor Arthur Laurents zusammengetan, um einen Klassiker der Musical-Geschichte zu schaffen, und zwar die West Side Story.

Drei weiße jüdische Männer, die zudem alle homo- oder zumindest bisexuell waren, nahmen sich also der von William Shakespeare verfassten Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia an und übertrugen sie in die Slums von New York, wo zwei Jugendgangs, die puerto-ricanischen Sharks und die einheimischen Jets, ihre Revierkämpfe ausfechten. Und in der Verfilmung von West Side Story von 1961, die mit Oscars geradezu überhäuft wurde, verkörpert ausgerechnet die weiße Schauspielerin Natalie Wood die Latina Maria.

kooperation Genau 60 Jahre später präsentiert Steven Spielberg sein in Kooperation mit dem Dramatiker Tony Kushner entstandenes Remake von West Side Story, das an diesem Donnerstag auch in Deutschland in die Kinos kommt. Und ganz offensichtlich wollte sich die Regie-Legende dem Vorwurf der kulturellen Aneignung gar nicht erst aussetzen, weshalb alle Rollen möglichst ethnisch »korrekt« und so divers wie möglich besetzt wurden. Allein Hispanics spielen die Sharks und ausschließlich »Weiße« die Jets, überhaupt wird plötzlich ganz viel Spanisch gesprochen.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Untertitel ließ man bewusst weg – das sollte wohl der Authentizität dienen. Darüber hinaus treten deutlich mehr »People of Colour« in Erscheinung als im Original. Last but not least ist da noch die Figur des Anybodys. In der Version von 1961 ist dies ein etwas burschikoses Mädchen, das in der Neuverfilmung als Transgender-Person gelesen werden kann und von der sich selbst als nicht-binär definierenden Iris Menas gespielt wird.

Ausschließlich Hispanics spielen die »Sharks« und Weiße die »Jets«.

Spätestens hier merkt man: West Side Story 2.0 huldigt in vielerlei Weise einem von Identitätspolitik geprägten Zeitgeist. Das Resultat ist sehr ambivalent. Zum einen erlaubt Spielberg seinen Figuren manchmal deutlich mehr Autonomie und Freiräume, sich zu entwickeln, als die Macher des Films von 1961. Gleichzeitig aber werden sie in einen Setzkasten gepresst, der sich vor allem an den Kategorien Hautfarbe oder Geschlechteridentifikation orientiert.

Und noch etwas rückt dadurch in den Vordergrund. Die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria, gespielt von Ansel Elgort und der Neuentdeckung Rachel Zegler, trägt deutlich gesellschaftskritischere Züge. Das zeigt sich bereits in den ersten Szenen, die eher Reminiszenzen an ein Kriegsgebiet wecken als an New York.

GENTRIFIZIERUNG Alte Häuserblocks werden abgerissen, die Gentrifizierung ganzer Bezirke schreitet voran, was dazu führt, dass die sozial Schwächeren im wahrsten Sinne des Wortes das Schlachtfeld räumen müssen. Und sowohl die Sharks als auch die Jets gehören zu den Verlierern dieser Entwicklung, was die Mitglieder beider Gangs aber nicht wahrhaben wollen, weshalb sie sich lieber weiter selbst zerfleischen.

Mit dem bekannten tödlichen Finale natürlich. Doch bis die Leichen der Protagonisten endlich weggeräumt werden, wird erst einmal ordentlich getanzt und gesungen.

Die gesamte Choreografie, von Justin Peck auf die Beine gestellt, ist neu. In Kombination mit den bekannten, an manchen Stellen jedoch leicht veränderten Songs, den knalligen Kostümen und der spektakulären Kameraführung eines Janusz Kaminski rollt sie wie ein Güterzug über die Leinwand, so bombastisch und eindrucksvoll. Allein deswegen lohnt es sich, den Film zu sehen. Leider können einige der Schauspieler, die wirklich begnadet zu tanzen verstehen, beim Singen nicht mithalten.

Wieder einmal funktionieren Spielbergs Verführungskünste.

Vor allem Ansel Elgorts Stimme wirkt etwas dünn, fast schon möchte man Stimmchen sagen. In Spielbergs Neuauflage soll er zudem einen ehemaligen Gewaltverbrecher verkörpern, der den Geläuterten gibt, sich aber der Schwerkraft der Gang entgegen besseren Wissens nicht zu entziehen vermag – mit fatalen Folgen. Das alles funktioniert allein deshalb nicht, weil Ansel Elgort allenfalls über das Charisma eines Kinderschokolade-Jungen verfügt.

FORMALISMUS Was aber sehr wohl funktioniert, sind wieder einmal die Verführungskünste Spielbergs. Trotz der Tatsache, dass die gesellschaftskritischen Ansätze nie konsequent zu Ende formuliert werden und alles zum identitätspolitischen Spektakel mutiert, werden die Zuschauer unweigerlich von einem verträumten Formalismus in der Bildsprache in den Bann gezogen.

Manche mögen das als Kitsch abtun, für andere ist es das große Kino. Allein deshalb kann die Frage, ob Remakes von Klassikern wie West Side Story wirklich nötig sind, mit einem Satz beantwortet werden: Wenn Steven Spielberg sich der Sache annimmt, dann auf jeden Fall!

Spielbergs Musicalfilm »West Side Story« (157 Minuten) ist ab dem 9. Dezember im Kino zu sehen.

Kino

»Fast ein Wunder«

Das israelische Filmfestival »Seret« eröffnete in Berlin mit dem Kassenschlager »Cabaret Total« von Roy Assaf

von Ayala Goldmann  20.11.2025

»Jay Kelly«

In seichten Gewässern

Die neue Tragikomödie von Noah Baumbach startet fulminant, verliert sich dann aber in Sentimentalitäten und Klischees

von Patrick Heidmann  20.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  20.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  20.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. November bis zum 27. November

 20.11.2025

»Lolita lesen in Teheran«

Klub der mutigen Frauen

Der Israeli Eran Riklis verfilmt die Erinnerungen der iranischen Schriftstellerin Azar Nafisi an geheime Literaturtreffen in Teheran – mit einem großartigen Ensemble

von Ayala Goldmann  20.11.2025

Ausstellung

Sprayende Bildhauerin mit Geometrie

Das Museum Wiesbaden zeigt Werke Louise Nevelsons und eines Künstlerpaares

von Katharina Cichosch  20.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

Magdeburg

Telemann-Preis 2026 für Kölner Dirigenten Willens

Mit der Auszeichnung würdigt die Landeshauptstadt den eindrucksvollen Umgang des jüdischen Dirigenten mit dem künstlerischen Werk Telemanns

 19.11.2025